Zum 31. Mal hatte die kurdische Exil-Gemeinschaft am Samstag zu ihrem Internationalen Festival für Kultur und Kunst eingeladen, diesmal in Frankfurt am Main und im Gedenken an die am 23. Dezember 2022 in Paris ermordeten Kurd:innen Evîn Goyî, Mîr Perwer und Abdurrahman Kızıl. Tausende Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet und verschiedenen Ländern Europas waren angereist, um sich auf dem Gelände des Rebstockparks an dem traditionsreichen Fest zu beteiligen und ihren Anspruch zu vermitteln: „100 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne: Lösung der kurdischen Frage, Freiheit für Öcalan, Status für Kurdistan“. Das Motto der diesjährigen Veranstaltung schmückte auch ein riesiges Transparent, das an der Bühne angebracht worden war.
Mit einer Mischung aus Kunst und Kultur, Musik, Folklore und Politik bot das Festival seinen Besucherinnen und Besuchern ein reichhaltiges Programm und reflektierte gleichzeitig die Forderungen der kurdischen Gesellschaft nach Frieden und Demokratie für Kurdistan und darüber hinaus. Neben kurdischen Organisationen waren auch revolutionäre türkische Kräfte sowie internationalistische Gruppen und Initiativen vertreten, gut sichtbar mit ihren Informations- und Verkaufsständen waren außerdem etliche Vereine, die Bücher, Zeitschriften, CDs und allerlei Köstlichkeiten verkauften. Autorinnen und Autoren präsentierten ihre Werke, auch gab es Ausstellungen, Folklore-Darbietungen und Gesprächsrunden. Besonders ins Auge stachen jene Frauen und Männer, die traditionelle Kleidung trugen und dadurch wie kleine Steine im Mosaik der kurdischen Kultur wirkten, sowie das Konterfei Abdullah Öcalans, das von zahlreichen Fahnen auf das Festivalgelände blickte.
Reichhaltiges Bühnenprogramm und politische Reden
Das Bühnenprogramm wechselte sich ab mit Redebeiträgen, Botschaften politischer Bewegungen, die verlesen wurden, und musikalischen Darbietungen. Den Anfang machten nach einer Schweigeminute im Gedenken an die Gefallenen des kurdischen Widerstands die beiden Ko-Vorsitzenden des kurdischen Europadachverbands KCDK-E, Zübeyde Zümrüt und Engin Sever. Sie zeichneten einen kurzen Umriss über die Auswirkungen der Vierteilung Kurdistans, die mit dem am 24. Juli 1923 unterzeichneten Vertrag von Lausanne besiegelt wurde, und zogen eine desaströse Bilanz. Sever fasste mit Blick auf das Kriegsgeschehen in Kurdistan treffend zusammen, dass Kurdinnen und Kurden, aber auch andere Bevölkerungsgruppen im kurdischen Siedlungsgebiet, unter der Souveränität der Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien seit Jahrzehnten Angriffen auf ihre Identität, Assimilierung, Besatzung und Völkermorden ausgesetzt seien.
Öcalan hat einen Lösungsplan, man muss ihn nur zu Wort kommen lassen
Zümrüt legte in diesem Zusammenhang den Fokus auf den PKK-Begründer Abdullah Öcalan, der seit bald einem Vierteljahrhundert in politischer Geiselhaft des türkischen Staates sitzt. Dabei sei der mittlerweile 74-Jährige der Schlüssel für die Demokratisierung der Türkei und der gesamten Nah- und Mittelostregion. Öcalan habe als einziger Akteur einen Lösungsplan für die Kurdistan-Frage, die Zümrüt als „Mutter aller Probleme“ bezeichnete. „Die Abschottung dieses Menschen, der der kurdischen Gesellschaft als legitimer politischer Repräsentant gilt, bringt daher schwerwiegende politische und soziale Folgen mit sich. Wir wissen, dass es, solange die kurdische Frage ungelöst bleibt, keinen Demokratisierungsprozess in der Türkei geben wird. Der Würgegriff, in dem sich die Gesellschaft befindet, wird mit jedem Tag, der nicht für den Frieden genutzt wird, enger werden.“ Explizit warnte Zümrüt davor, dass das Projekt Rojava in ernsthafter Gefahr sei und der türkische Staat die Absicht habe, die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien in einen dauerhaften Kriegsschauplatz zu verwandeln. Damit einher gingen auch Angriffe auf kurdische Errungenschaften in anderen Teilen Kurdistans. „Wir bewerten die Isolation von Abdullah Öcalan als Gradmesser für die genozidale Politik gegen unser Volk. Deshalb sind wir entschlossen, die Isolation zu durchbrechen und Öcalan zu befreien.“
Öztürk: Sobald AKP unter Druck gerät, verschärfen sich Krieg und Isolation
Berdan Öztürk, Abgeordneter der Grünen Linkspartei (YSP) im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzender des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD), sieht eine enge Verbindung zwischen der ökonomischen und politischen Krise in der Türkei und der Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali, auf der Öcalan seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung 1999 aus Kenia festgehalten wird. Die herrschende Erdoğan-Partei AKP setze, sobald sie unter Druck gerät, auf eine Verschärfung der Isolation und auf Kriegspolitik. „Das ist eines der grundlegendsten Probleme in der Türkei, gegen das die kurdische Gesellschaft seit Jahren mit Widerstand antwortet.“ Dabei sei dies die Hauptaufgabe der politischen Opposition. Der größte Teil der Oppositionsparteien im türkischen Parlament sei sich in puncto Öcalan und der kurdischen Bewegung jedoch einig, über die dramatische Bilanz der Menschenrechtsverletzungen an dem PKK-Vordenker und zahlreichen anderen Kurdinnen und Kurden hinwegzusehen. „Sie ignorieren die Forderung nach einem harmonischen und gleichberechtigten Leben, nach Demokratie und Gerechtigkeit. Sie fürchten sich vor Abdullah Öcalan und dem kurdischen Volk, die nach Freiheit und Emanzipation streben. Es sind Heuchler“, kritisierte Öztürk. „Wir akzeptieren diese schmutzige Politik nicht. Wir bestehen auf ein freies Leben.“
Öcalan-Anwälte: Den Widerstand gegen Isolation global ausweiten
Die beiden Rechtsanwälte Ömer Güneş und Mahmut Şakar informierten das Publikum über die Lage auf Imrali. Dort werden Abdullah Öcalan und drei Mitgefangene in Incommunicado-Haft gehalten. In Incommunicado-Haft unterliegen die Inhaftierten nicht nur vollständiger Isolation, sondern auch einer absoluten Kontaktsperre. Im Fall der Imrali-Gefangenen dauert diese totale Abschottung von ihrer Außenwelt seit nunmehr zweieinhalb Jahren wieder an. Die einzige Institution, die die Isolation durchbrechen könnte, ist das europäische Antifolterkomitee (CPT). Doch trotz eines Besuchs auf der Insel vor gut einem Jahr gibt die Einrichtung des Europarats keinerlei Auskunft über die Lage der dortigen Gefangenen. Gleichzeitig ignoriert das CPT systematisch Anträge vom Rechtsbeistand Öcalans und seiner Mitgefangenen, wegen der andauernden Isolation Zwangsmaßnahmen gegen die Türkei einzuleiten. Ömer Güneş und Mahmut Şakar riefen die kurdische Öffentlichkeit daher auf, ihren Widerstand gegen die Isolation sowohl in politischer als auch juristischer Hinsicht auszuweiten und weltweit zu führen.
Grußbotschaft von Jelinek und Wecker
Zwischen weiteren Reden, die es unter anderem von dem Bundestagsabgeordneten Armand Zorn (SPD) gab, traten die kurdische Frauenmusikgruppe Kevana Zerin, die arabische Band Göksel & Ensemble, die Künstlerin Jalê Sineyî aus Rojhilat (Ostkurdistan), der Sänger Şemdîn, die Musikgruppe Silbûs û Tarî und der Rapper Sherif Omeri auf. Außerdem wurden diverse Grußbotschaften verlesen, unter anderem im Namen von KJAR-Europa (Gemeinschaft der freien Frauen von Rojhilat), der TJK-E (Kurdische Frauenbewegung in Europa), dem Ko-Vorsitzenden der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), Cemil Bayik, und von Elfriede Jelinek und Konstantin Wecker. Die österreichische Nobelpreisträgerin und der deutsche Liedermacher hatten die Schirmpatenschaft des Festivals übernommen. Nachdem der Videoclip „Schäm dich Europa“ von Konstantin Wecker mit kurdischen Untertiteln gezeigt wurde, verlas das Organisationskomitee eine Grußbotschaft, die wir nun ungekürzt dokumentieren:
Lasst uns wieder das Hoffen lernen – und aus allen imperialen Kriegen desertieren
„Im Tornado des Krieges, der mit steigenden Rüstungsaktien drohend sich kündet, stürzt sich Europa in den Abgrund des Selbstmords.
(…) Um ehrlich zu sein, muss man wissen. Um tapfer zu sein, muss man verstehen. Um gerecht zu sein, darf man nicht vergessen“, schrieb der Schriftsteller Ernst Toller am Tag der Verbrennung seiner Bücher in Deutschland.
Schon fast 20 Monate dauert der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Täglich werden Menschen getötet und verstümmelt. So wie bei allen imperialen Kriegen wie dem des Nato-Staates Türkei gegen die Menschen in Kurdistan und in den selbstverwalteten Regionen Rojavas in Nordsyrien oder dem Krieg Saudi-Arabiens im Jemen sowie in den vergangenen Kriegen wie denen der Nato 1999 gegen die Republik Jugoslawien, 2001 gegen Afghanistan oder beim Krieg der US-geführten „Koalition der Willigen“ 2003 gegen Irak.
Die Aussichten auf ein baldiges Ende des Kriegs gegen die Ukraine stehen schlecht, der Krieg ist zu einem „Abnutzungskrieg“ geworden. Er wird nicht gewonnen werden, sondern wie so oft in der Weltgeschichte viel zu spät zu Ende gehen. Wir sollten verstehen, um zu handeln.
Diese imperialen Kriege müssen sofort beendet werden: Der Krieg gegen die Menschen in der Ukraine genauso wie der gegen die Kurd:innen in der Türkei, in Nordsyrien, im Iran. Ebenso müssen die drohenden, noch viel größeren Kriege verhindert werden.
Als Künstler:innen, als eine Literatin und ein Musiker bestehen wir darauf, was Ernst Bloch in seinem Werk „Das Prinzip Hoffnung“ formuliert hat: „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Wie reich wurde allzeit geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre. (…)“
Ein besseres Leben für alle Menschen auf unserer Welt ist möglich – davon zu träumen, darüber zu schreiben, davon zu singen, darauf zu bestehen und sich gemeinsam dafür zu engagieren, das wollen wir alle einzeln und zusammentun: Heute, hier beim kurdischen Kulturfestival in Frankfurt, und überall und jeden Tag weltweit.
Wir werden niemals aufhören, zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt ohne Kriege, Faschismus, Rassismus, Patriarchat, ohne die zerstörerische Ausbeutung von Menschen und Natur. Die Aufstandsbewegung im Iran nach der Ermordung der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini hat weltweit Hoffnung auf eine globale feministische Perspektive wachsen lassen: Jin, Jian, Azadi – Frau, Leben, Freiheit – woman live freedom! Diese visionäre Position hat eine lange Geschichte in der kurdischen feministischen Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit.
Unsere Träume können die Kriegsherren und Politiker:innen dieser Welt weder verbieten noch können sie unsere Versuche, diese Wirklichkeit werden zu lassen, auf Dauer verhindern. Weder in Ankara, noch in Teheran, weder in Moskau, in Washington, Peking oder Berlin.
„Es ist unsere Verantwortung, als Intellektuelle oder einfach als nachdenkliche Menschen zu versuchen, zumindest zu überlegen, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Leute gibt, die tatsächlich versuchen, etwas Besseres zu schaffen, liegt es in unserer Verantwortung, ihnen dabei zu helfen“, sagte David Graeber über die Bedeutung der „echten Revolution“ in Rojava in einem Gespräch mit der Journalistin Pinar Öğünç. Das spricht uns aus der Seele. Der Anthropologe, Anarchist und Antifaschist David Graeber ist am 2. September 2020 viel zu früh aus dem Leben gerissen worden.
Rojava und Kurdistan gehen uns alle an: Die Menschen von Rojava brauchen jetzt unsere weltweite Solidarität. Und wir brauchen die Utopie von Rojava: Dieses gesellschaftliche Experiment einer basis- und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in einer Region patriarchaler Autokraten, von Gewalt und Kriegen. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava der einzige Hoffnungsschimmer für viele Menschen in der gesamten Region für Frieden und eine antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung.
Doch die deutsche Regierung schweigt und besiegelt erneut ihren schmutzigen Deal mit dem Nato-Partner Türkei gegen Geflüchtete. Dieser Pakt ist tödlich für sehr viele Menschen. Sie sterben im Mittelmehr, an den Außengrenzen der Festung Europa und in den Folterkellern der „Verbündeten“. Dieser erneute Deal war der Auftakt für die Abschaffung des Asylrechts im Juni dieses Jahres und die EU-Politik gegen Geflüchtete. Es geht um die Menschen und die Menschlichkeit! Stoppen wir die Kriege jetzt!
Wir wollen von einem weiteren Kriegsverbrechen erzählen, weil es sich in wenigen Wochen zum 25. Mal jährt und die Täter bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Es ist ein Beispiel von vielen: Die Münchnerin Andrea Wolf / Ronahi sowie der kurdische Musiker Hoznan Hogir und mindestens eine weitere Person sind am 23. Oktober 1998 als unbewaffnete Gefangene von Offizieren und Soldaten der türkischen Nato-Armee in den Bergen der kurdischen Region Wan (türk. Van) nach ihrer Festnahme gefoltert und hingerichtet worden. Erst 15 Jahre später konnte im September 2013 ein Friedhof in den Bergen von Keleh bei Catak in der Nähe des Massakers eröffnet werden. Zwei Jahren später, wenige Wochen nachdem Angela Merkel in Ankara den „EU-Türkei-Deal“ gegen Geflüchtete besiegelt hatte, hat das türkische Militär mit Helikoptern, Kampfflugzeugen und Granaten den nach der deutschen Internationalistin, Feministin und Antifaschistin Andrea Wolf benannten Friedhof sowie die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum bombardiert und zerstört. So wie sie bis heute viele andere Friedhöfe in Kurdistan bombardiert und zerstört hat. Sie bomben nicht nur die Lebenden, sie bomben auch die Getöteten und Ermordeten, weil sie die Erinnerung an ihre Ideen und ihre Träume auslöschen wollen. Doch das wird ihnen nicht gelingen. Wir sollten uns an die Ideen und Utopien der Getöteten erinnern, damit sie niemals vergessen werden, weder die Ideen, noch die Menschen.
An dieser Stelle wollen wir die sofortige Freilassung von Abdullah Öcalan fordern, der seit 1999, also seit 24 Jahren in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten wird. In seinem Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ schreibt der kurdische Politiker, Repräsentant und bedeutende Theoretiker:
„Attraktiv finde ich ethisch-politische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein (…): das Anbeten von Kraft und Macht, das funkelnde und glitzernde Leben aller blutbesudelten Zivilisationen, ich habe es wirklich satt und hasse es.
(… ) Die Kindheit der Menschheit, die ins Vergessen gestoßene Geschichte der Werktätigen und der Völker, die Welten der Freiheit und der Gleichheit in den Utopien der Frauen, der Kinder und der Kind gebliebenen Greise – ich will mich lieber an ihnen beteiligen, dort einen Erfolg erzielen.
All das ist Utopie. Aber manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration. Aus den heutigen Bauten, die schlimmer sind als Gräber, wird man natürlich durch Utopien ausbrechen. (…)“
Eine gerechte und friedliche Lösung für die Menschen in Kurdistan setzt die Freilassung von Abdullah Öcalan und die Aufhebung des Verbotes der PKK in Deutschland voraus.
Wir wollen unseren Beitrag mit dem Gedicht „Am Ende der Zeit“ der Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988) schließen. 1941 sperrten die Faschisten Rose Ausländer ins Ghetto Czernowitz, sie überlebte in einem Kellerversteck Holocaust und Krieg. Dieses Gedicht ist voller Liebe zu den Menschen und voller Sehnsucht und Hoffnung auf ein Leben nach dem Krieg. Und das ist es, was wir von Herzen besonders auch den Menschen in allen Teilen Kurdistans wünschen, die seit über 100 Jahren unter kolonialer Unterdrückung und Krieg leiden, dass der Krieg, der stets „Terror der Mächtigen“ ist endlich endet:
Am Ende der Zeit
Wenn der Krieg beendet ist
am Ende der Zeit
gehn wir wieder spazieren
in der Muschelallee
einverstanden
mit Mensch und Mensch
Es wird schön sein
wenn es sein wird
am Ende der Zeit