„In Kurdistan herrscht ein anderes Gesetz“

Mit der Zwangsverwaltung in Colemêrg macht die Regierung geltend, was seit Jahrzehnten türkische Staatsräson ist: Wann immer Kurd:innen ihr Recht auf politische Teilhabe praktizieren, darf Ankara eingreifen.

Zwangsverwaltung in Colemêrg

Doppelte Standards im Umgang mit der kurdischen Bevölkerung gehören zum Muster der türkischen Politik. Das zeigte sich zuletzt mit der im Innenministerium orchestrierten Absetzung und Verhaftung des Ko-Bürgermeisters von Colemêrg (tr. Hakkari) Mehmet Sıddık Akış (DEM) wegen vermeintlichen Terrorvorwürfen und der Einsetzung eines Zwangsverwalters an seiner Stelle. Damit machte die Regierung ein weiteres Mal geltend, was seit Jahrzehnten türkische Staatsräson ist: Wann immer Kurdinnen und Kurden ihr Recht auf politische Teilhabe praktizieren, darf Ankara eingreifen.

Dass gewählte Gemeindevorstehende in der Türkei ihrer Ämter enthoben und durch regierungstreue Beamte ersetzt werden, ist seit 2016 Praxis. Möglich macht das ein unter dem Ausnahmezustand nach dem mutmaßlichen Pseudoputsch in jenem Jahr eingeführtes Präsidialdekret. Zwar wurden seither nicht nur Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kurdischer Parteien abgesetzt – obschon sie die große Mehrzahl bilden. Auch Gemeindevertreter anderer Oppositionsgruppen verloren aufgrund juristischer Gründe ihre Posten, etwa in Kepez bei Antalya, wo der bei der Kommunalwahl im März gewählte Bürgermeister der CHP im Zusammenhang mit einem tödlichen Seilbahnunglück verhaftet wurde. Doch im Gegensatz zu Colemêrg wurden die Gesetze dort nicht umgangen. Der Stadtrat durfte, wie es die rechtlichen Regelungen vorsehen, aus seinen Mitgliedern einen Interimsbürgermeister und seine Stellvertreter bestimmen.

Im Interview mit der Tageszeitung Özgür Politika äußerte sich der DEM-Abgeordnete Serhat Eren über die Entwicklungen nach dem Kommunalputsch in Colemêrg.

Mit dem Kommunalputsch von Colemêrg wurde ein Zwangsverwalter ernannt. Ist das umkehrbar? Gibt es juristische oder verwaltungsmäßige Wege dazu?

Die routinemäßige Sitzung in dem seit zehn Jahren andauernden Prozess gegen Mehmet Sıddık Akış war ursprünglich für den 23. Mai angesetzt. Kurz vor diesem Datum wurden seine Anwälte jedoch darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Verhandlung wegfällt und stattdessen dieser Tag als Verkündungstermin festgelegt wurde. Einem Antrag auf Aufschub für mehr Zeit für Verteidigung würde man vermutlich nicht stattgeben, hieß es weiter. Es ist daher davon auszugehen, dass die Vorbereitungen für die Ernennung eines Zwangsverwalters weit im Voraus getroffen worden waren. Obwohl das Verfahren viele unvollendete Vorgänge enthielt, einige Mitangeklagte weiter zur Fahndung ausgeschrieben waren, wurde es eiligst abgeschlossen. Dies war ein Vorgang, der unter normalen Bedingungen nicht so plötzlich hätte geschehen können. Es ging darum, eine Zwangsverwaltung zu installieren und diese auf eine „Rechtsgrundlage“ zu stellen. Das Verfahren, in dem Akış, wäre er nicht Ko-Bürgermeister, freigesprochen worden wäre, wurde mit einer Verurteilung zu 19,5 Jahren Gefängnis abgeschlossen. Dieses Urteil wurde dann als Rechtfertigung zur Ernennung des Zwangsverwalters herangezogen.

Serhat Eren (2.v.r.) vor einigen Tagen beim Demokratiemarsch durch Colemêrg (c) MA/YÖP/ANF

Gegen die Entscheidung der Strafkammer Hakkari wird Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht kann das Urteil aufheben, es wegen Mängeln an das örtliche Gericht zurückverweisen oder die Entscheidung bestätigen. Es kann nicht rechtskräftig werden, ohne das Berufungsverfahren zu durchlaufen. Gegen die Inhaftierung kann jederzeit Widerspruch eingelegt werden. Der Ko-Bürgermeister kann juristisch gesehen sowohl von der Berufungsinstanz als auch dem Kassationsgericht freigelassen werden. Dementsprechend kann auch die Entscheidung des Innenministeriums aufgehoben werden. Gemäß Artikel 127 der Verfassung muss das Ministerium das Urteil über einen Bürgermeister, gegen den ein Ermittlungsverfahren oder eine strafrechtliche Verfolgung im Zusammenhang mit seinem Amt eingeleitet wurde, abwarten. Wird der Ko-Bürgermeister am Ende des Verfahrens verurteilt, kann der Stadtrat einen neuen Bürgermeister wählen. Die AKP verstößt jedoch immer wieder gegen die Verfassung, insbesondere wenn es um Kurden geht.

Das ist ja so in Kepez geschehen. Warum wird das nicht in Colemêrg gemacht? Gibt es dafür eine Rechtsgrundlage? Was kann dagegen unternommen werden?

Der Bürgermeister von Kepez wurde vom Innenministerium vorübergehend suspendiert, aber in der Kommune wählte der Stadtrat einen neuen Bürgermeister. Das gleiche spielte sich in Menemen bei Izmir ab. Dies passiert in Kurdistan jedoch nicht . Man kann hier wirklich von zwei Gesetzbüchern sprechen. Es gilt ein anderes Gesetz in Kurdistan als in der Türkei. Wir alle wissen sehr genau, dass, wenn es um die Kommunen der DEM oder ihrer Schwesterparteien geht, koloniales Recht, das dem politischen Klima der jeweiligen Zeit angepasst ist, zu Anwendung kommt. Das erleben wir seit 2016. Bei der Usurpation der Rathäuser geht es aber um weit mehr als nur um Profit und Vorteil. Der erste Pfeiler dieser Politik ist die Nichtanerkennung des Willens des kurdischen Volkes, die Nichtanerkennung seines Wahlrechts, die Nichtbetrachtung von Kurdinnen und Kurden als gleichberechtigte Menschen und Bürger. Im Ergebnis geht es darum, die kurdische Sprache in unseren Gemeinden zu verbieten, die Arbeit im Bereich der Kultur und der Kunst zu verhindern, die Werte und Symbole des kurdischen Volkes zu zerstören und ihm sein Gedächtnis zu rauben.

Ein weiterer Faktor kommt bei der Ernennung eines Zwangsverwalters über Colemêrg hinzu. Es handelt sich um die Tatsache, dass es eine Grenzstadt ist. Colemêrg ist eine Stadt, die die Begehrlichkeiten krimineller Netzwerke innerhalb des Staates weckt. Denn diese Netzwerke ziehen großen Profit aus dem staatlich geförderten Drogenhandel und dem Waffenschmuggel. Das gegen die Kurden angewandte Recht ist Feindrecht, Feindstrafrecht. Genau dieses Feindrecht zeigt sich auch im Vollzugsgesetz, mit dem die Gefängnisse verwaltet werden. Es handelt sich um administrative Maßnahmen, die man gegen Feinde anwendet. Während also in der Türkei der Stadtrat einen neuen Bürgermeister wählen kann, wird in Kurdistan die Verfassung ganz offen gebrochen.

Der Stadtrat bestellte Viyan Tekçe als Stellvertreterin von Mehmet Sıddık Akış. Die DEM-Partei forderte daher den Abzug des Zwangsverwalters. Wurde die Arbeit der Stadtverwaltung durch den Zwangsverwalter gestört? Wie ist die Situation?

Nach der Ernennung des Zwangsverwalters hat der Stadtrat Viyan Tekçe zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewählt. So sollte es eigentlich auch geschehen. Die getroffene Entscheidung ist korrekt und verfassungsgemäß. Sowohl der Gouverneur, der zum Zwangsverwalter ernannt wurde, als auch das Innenministerium müssen sich an diese Entscheidung halten. Dies wäre die Grundlage für verfassungskonformes Handeln. Aber es geht ja gar nicht darum, dass der Ko-Bürgermeister verurteilt wurde oder dass gegen ihn ein „Terrorverfahren“ läuft. Das ist der Teil der Rechtsbeugung. Für die AKP ist das Gesetz ein Instrument zur Gestaltung der Politik, eine Lüge, ein Betrug; es ist ein Deckmantel für all die von ihr begangenen illegalen Praktiken. In Colemêrg wurde nicht nur der Bürgermeister abgesetzt und inhaftiert, auch der vom Volk beauftragte Stadtrat wurde faktisch aufgelöst. Dieser Schritt verdeutlicht den Hauptzweck der Politik der Zwangsverwaltung, die darin besteht, jede gewählte Volksvertretung vollständig auszuschalten. Auch wenn es keinen offiziellen Beschluss über die Mitglieder des Stadtrates gibt, versammelt der zum Treuhänder ernannte Gouverneur ein paar Beamte um sich und regiert die Stadt ohne die geringste Beteiligung der Mitglieder des Stadtrates. Genauer gesagt, er regiert nicht, sondern plündert die Stadt aus.

In jedem Fall kann die Politik des Zwangsverwalters nicht anhand der Zeit bewertet werden, in der er sich im Amt befindet. Auch wenn wir die Stadtverwaltungen gewonnen haben, dauert der Schaden, den die Zwangsverwalter aus der vorherigen Legislaturperiode angerichtet haben, an. Sie haben alle Kommunen in tiefe Schulden gestürzt. Sie haben Mittel des Volkes ausgeplündert, den Grund und Boden der Kommunen, die eigentlich dem Volk für Dienstleistungen zur Verfügung standen, verkauft und das Recht der Menschen, ausreichende Dienstleistungen zu empfangen, auf Jahrzehnte geschädigt. De facto wurde die Verpflichtung der Stadtverwaltungen, die Menschen mit Dienstleistungen zu versorgen, abgeschafft.

Derzeit ist Viyan Tekçe zur stellvertretenden Bürgermeisterin bestellt worden, aber der Zwangsverwalter beruft den Stadtrat nicht ein und trifft seine Entscheidungen mit den Abteilungsleitern des Rathauses. In dieser Situation ist die gesamte Stadtverordnetenversammlung de facto arbeitsunfähig. Wenn der Zwangsverwalter diesen Willen der Menschen nicht anerkennt, wird der Widerstand unserer Partei und unseres Volkes weitergehen und alle kommunalen Aktivitäten werden in den Augen des Volkes ihre Legitimität verlieren.

Es heißt, dass gegen 27 Ko-Bürgermeister:innen der DEM-Partei Ermittlungen und Anklagen vorliegen und weitere Zwangsverwalter ernannt werden können. Gibt es eine Rechtsgrundlage dafür?

Zunächst ist es notwendig, Folgendes zu sagen: Über jeden Kurden und jede Kurdin, die für den Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit, Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit eintritt, wird eine Akte angelegt. Es gibt allerdings eine Vielzahl an Ko-Bürgermeister:innen, gegen die keine Verfahren laufen – zumindest war das bis zur Kommunalwahl noch so. Die von der AKP gesteuerte Justiz leitete daher neue Ermittlungen ein, um sie als Grundlage für die Einsetzung von Zwangsverwaltern zu nutzen. Wir hatten sogar Kandidierende, die kurz vor und kurz nach der Wahl zum Verhör geladen wurden. Der Staat bereitet groß angelegte Verfahren vor. Einfachste Worte werden zu „terroristischer Propaganda“ umgewidmet. Diese Verfahren werden bereitgehalten, um zu gegebener Zeit einen Zwangsverwalter zu ernennen. Daher ist es nicht so wichtig, ob gegen unsere Ko-Bürgermeister ermittelt bzw. Anklage erhoben wird oder nicht. Ermittlungen und strafrechtliche Verfolgung sind keine Rechtfertigung für die Ernennung von Zwangsverwaltern. Die Zwangsverwaltungspolitik ist eine Folge; sie ist die Konsequenz der fehlenden Lösung der kurdischen Frage. Solange die kurdische Frage nicht gelöst ist, ist dieses Vorgehen ein integraler Bestandteil des Krieges, und solange dies Staatspolitik ist, besteht auch das Risiko weiter. Die Politik der Zwangsverwaltung ist ein Komplott, ein Hinterhalt.

Mahnwache gegen Zwangsverwaltung in Istanbul (c) MA/YÖP/ANF

Für die Ernennung von Zwangsverwaltern gibt es keine rechtliche Grundlage. Im Jahr 2016 wurde jedoch ein Artikel zur Abschaffung von Artikel 127 der Verfassung verabschiedet. Dies geschah nach dem Putschversuch, von dem es damals [von Erdogan] hieß, dieser sei ein „Geschenk Gottes“. Zu dieser Zeit wurden viele Dekrete erlassen, durch die Grundrechte und -freiheiten abgeschafft wurden. Ein diesen Gesetzesdekreten hinzugefügter Artikel ebnete den Weg für die Ernennung von Zwangsverwaltern an Stelle von „Personen, die Gegenstand von Terrorermittlungen/-verfolgungen sind“. Man ernennt also Zwangsverwalter auf der Grundlage dieses Artikels, den man 2016 mit einem Gesetzesdekret in das Kommunalgesetz aufnahm. Dieser Artikel verstößt sowohl gegen die Verfassung als auch gegen internationale Konventionen und die Beschlüsse der Venedig-Kommission [Europäische Kommission für Demokratie durch Recht].

Hätte sich die stärkste Oppositionspartei [die CHP] bei der Verabschiedung dieses Gesetzesdekrets im Jahr 2016 an das Verfassungsgericht gewandt, wäre es aufgehoben worden. Tatsächlich gab es damals viele Artikel, die durch dasselbe Dekret verabschiedet wurden. Damals ging die führende Oppositionspartei wegen der Zwangsverwalter vor, aber sie reichte Verfassungsklagen wegen vieler anderer Artikel ein, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzesdekrets fielen, und das Gericht hob diese Entscheidungen auf.

In den Jahren 1987-1988 erlaubte ein während des Ausnahmezustands erlassenes Gesetzesdekret die Einsetzung von Zwangsverwaltern über Kommunen. Das Verfassungsgericht gab damals einem Antrag auf Aufhebung entsprechender Dekrete statt und entschied, dass Zwangsverwalter nicht ernannt werden dürfen, da diese Befugnis nicht durch Gesetzesdekrete erteilt werden dürfe. Einzig aufgrund dieser Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs können wir bereits sagen, dass die Einsetzung von Zwangsverwaltern rechtswidrig ist. Trotz dieses eindeutigen Urteils verweigert sich das AKP/MHP-Regime. Ich kann sagen, dass dieses Vorgehen in keiner Weise im Einklang mit dem Gesetz steht.

Werden Sie diese verfassungsrechtliche Frage höchstinstanzlich entscheiden lassen? Wie werden Sie juristisch vorgehen?

Die Anwältinnen und Anwälte unserer Partei werden beim Verwaltungsgericht eine Klage auf Aufhebung des Verwaltungsakts über die vorübergehende Suspendierung unseres Ko-Bürgermeisters von Colemêrg einreichen. In dieser Klage wird die Verfassungswidrigkeit des per Dekret durchgesetzten Artikels zur Zwangsverwaltung im Kommunalgesetz geltend gemacht. Wenn das Gericht unsere Klage auf Verfassungswidrigkeit für gerechtfertigt hält, wird es die Sache an das Verfassungsgericht weiterleiten, und somit wird der Artikel über Zwangsverwaltung, den die CHP trotz ihrer Vollmacht als führende Oppositionspartei nicht vor das Verfassungsgericht gebracht hat, von diesem Gericht beurteilt werden.

Der verwaltungsgerichtliche Prozess und der Prozess vor dem Verfassungsgericht sind langfristiger Verfahren. Als Partei werden wir uns jedoch auch an die Venedig-Kommission wenden. Auch werden wir Anträge an Institutionen des internationalen Rechts stellen.