In Frankreich verurteilt, europaweit festgenommen

Im Februar 2019 sind 17 Aktivist*innen der kurdischen Jugendbewegung vor dem CPT in Straßburg festgenommen und kurz darauf zu Haftstrafen verurteilt worden. Ein gutes Jahr später wurden einige von ihnen von der deutschen Polizei kontaktiert.

Am 25. Februar 2019 fand in Straßburg eine Kundgebung in Solidarität mit dem Hungerstreik politischer Gefangener in der Türkei statt. Vor dem Antifolterkomitee des Europarats (CPT) eskalierte die Situation und Demonstrant*innen drangen auf das Gelände der Einrichtung vor. Es kam zu Rangeleien und Sachschaden am Eingangsbereich des Gebäudes, in deren Folge 17 Teilnehmer*innen des Protestes in Gewahrsam genommen wurden. Nach einer Anhörung am 27. Februar wurden zehn von ihnen entlassen und sieben vorübergehend festgenommen.

Die Sieben blieben bis zum 4. April in Untersuchungshaft. An diesem Tag fand ein Verfahren vor einem Gericht in Straßburg gegen die 17 Angeklagten statt. Den französischen, türkischen, syrischen und deutschen Staatsbürger*innen, die zur Zeit in Frankreich, der Schweiz und Deutschland leben, wurden insgesamt lediglich zwei Verteidigerinnen und drei Übersetzer*innen für die Sprachen Deutsch, Arabisch und Türkisch beigeordnet. Auf Nachfrage von AZADÎ e.V., dem Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden mit Sitz in Köln, sagten einige von ihnen, dass sie kein Wort von der Verhandlung verstanden hätten und nicht wüssten, warum sie zu welcher Strafe verurteilt wurden. Alle Angeklagten wurden wegen unterschiedlicher Delikte vergleichbar mit Körperverletzung oder Sachbeschädigung nach dem französischen Strafrecht zu Haftstrafen zwischen einem Monat und einem Jahr verurteilt. Sie alle durften nach der Verhandlung das Gericht verlassen und – so sie nicht in Frankreich leben – ausreisen. Danach hatten sie in dieser Sache nichts weiter von den französischen Behörden gehört.

Ein Jahr später, im Frühjahr und Sommer 2020, wurden dann einige der Verurteilten von der deutschen Polizei aufgesucht bzw. „in Auslieferungssachen“ vorgeladen, ohne dass ihnen mitgeteilt worden wäre, dass diese Vorladungen und Ansprachen mit dem Verfahren in Straßburg zu tun gehabt hätten.

Im Juni wurde M.A. in Prag bei einer Personenkontrolle festgenommen, wenige Wochen später I.G. in Stuttgart sowie F.A. in Serbien. Erst nachdem Rechtsanwält*innen Akteneinsicht nehmen konnten, stellte sich heraus, dass die französischen Behörden europäische Haftbefehle auf sie ausgestellt hatten und mithilfe des Schengener Informationssystems (SIS) nach ihnen hatten fahnden lassen. M.A. und I.G. wurden, da sie türkische Staatsbürger sind und deshalb nicht vor einer Abschiebung nach Frankreich geschützt sind, trotz Intervention ihrer Anwälte an Frankreich überstellt, wo sie seitdem ihre Haftstrafe absitzen bzw. bereits abgesessen haben.

N.A. wurde Mitte Juli in Hannover bei einer Demonstration in Gewahrsam genommen. An der Ingewahrsamnahme war der örtliche Staatsschutz beteiligt, der sichtbar Freude an der Maßnahme hatte. Nach zwei Tagen hob das OLG, das über die Haftsache und die Auslieferung entscheidet, die Anordnung der Haft auf. Da N.A. deutscher Staatsbürger ist, kann er nicht ohne weiteres gegen seinen Willen aus Deutschland ausgeliefert werden.

Mindestens sechs weitere Betroffene wurden von der deutschen Polizei vorgeladen oder besucht, ohne dass bisher Haftbefehle vollstreckt worden sind. Auch wenn sie derzeit nicht von einer Auslieferung bedroht sind, bestehen die Haftbefehle weiter und können im europäischen Ausland gegen sie vollstreckt werden. Zudem sind die syrischen und türkischen Staatsbürger nicht nur von Auslieferungen aus Deutschland, sondern auch von der Gefahr ausländerrechtlicher Konsequenzen nach einer möglichen Haft bedroht.

AZADÎ stellt dazu fest: „Wäre die Repression bei der Aktion im Februar 2019 ernster genommen worden, wäre das Gerichtsverfahren im April 2019 politisch geführt worden, hätten sich die Betroffenen bereits im März, als die ersten von ihnen aufgesucht oder vorgeladen wurden, untereinander oder mit Antirepressionsstrukturen vernetzt, wären die Konsequenzen für alle Beteiligten weniger nachteilig gewesen. Dieser Fall zeigt, wie wichtig ein bewusster Umgang mit politischer Repression ist. Zudem macht er erstens deutlich, dass die europäische Integration auch im Bereich der Strafverfolgung voranschreitet, und zweitens, dass sich soziale Bewegungen und ihnen nahe stehende Rechtsanwält*innen transnational besser aufstellen müssen.“


Der Artikel ist dem AZADÎ-Info 206 entnommen. Das Info erscheint monatlich als Digitalausgabe auf der Internetseite des Rechtshilfefonds und wird auf Wunsch per E-Mail zugeschickt.