Ilias Panchard: „Europa muss Rojava schützen!“

Der Schweizer Lokalpolitiker Ilias Panchard äußert sich im Gespräch mit ANF zur aktuellen Situation in Syrien. Er findet klare Worte, attestiert der europäischen Politik einen Mangel an Aufrichtigkeit und sieht dennoch Chancen für positive Entwicklungen.

ILIAS PANCHARD

Der Schweizer Lokalpolitiker Ilias Panchard, Gemeinderatsmitglied von Lausanne und Ko-Vorsitzender der Grünen Lausanne, verfolgt seit Jahren die Entwicklungen in Syrien – insbesondere in Rojava – mit großer Aufmerksamkeit. Im Gespräch mit ANF äußert er sich zur aktuellen Lage in Syrien nach dem Sturz des Baath-Regimes am 8. Dezember, dem politischen Einfluss dschihadistischer Gruppen wie HTS und den anhaltenden Angriffen der Türkei in Nord- und Ostsyrien. Zugleich appelliert er an die europäische Politik, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und das fortschrittliche Gesellschaftsmodell in Rojava zu schützen.

Sturz des Regimes war gute Nachricht – doch viele Mächte nutzen Syrien aus“

Am 8. Dezember wurde das Baath-Regime gestürzt, woraufhin das islamistische Bündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Macht übernahm. Für Panchard, der während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ selbst an Protesten beteiligt war, ist vor allem das Ende der Herrschaft von Baschar al-Assad ein positives Signal: „Für alle Demokrat:innen und sicherlich auch für die Kurd:innen ist das Verschwinden von Assad aus der Machtposition eine gute Nachricht. Es wäre allerdings wünschenswert, dass er sich, statt ins Exil zu gehen, vor einem internationalen Gericht für seine Verbrechen verantwortet. Bei den zahllosen Opfern, Verhaftungen und Hunderttausenden Toten, ganz zu schweigen von den Millionen Geflüchteten, ist das ein überfälliger Schritt.“

Auch nach dem Umsturz ist die Lage in Syrien nicht stabil. In der jetzigen Situation dürfe nach Panchard insbesondere nicht außer Acht gelassen werden, dass zahlreiche Milizen, darunter auch die sogenannte „Syrische Nationalarmee“ (SNA), von ausländischen Akteuren finanziert und gelenkt werden – allen voran von der Türkei. Diese verfolge seit Jahren das Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (Rojava) zu zerschlagen.

HTS an der Macht: „Äußerst misstrauisch bleiben“

Mit Blick auf die neue Konstellation in Syrien und die Rolle von HTS zeigt sich Panchard skeptisch, ob die nun dominierende Gruppe wirklich einen Wandel vollzieht: „Die führenden Köpfe von HTS waren und sind zum Teil radikale Verfechter eines globalen Dschihad. Auch wenn einige extremistische Flügel angeblich zurückgedrängt wurden, ist Misstrauen angebracht. Man weiß nicht, wie sehr Minderheitenrechte oder demokratische Strukturen wirklich respektiert werden. Die internationale Gemeinschaft sollte hier sehr genau hinsehen und sich nicht mit vagen Versprechen zufriedengeben.“

Die Geschwindigkeit, mit der insbesondere europäische Regierungen Kontakt zur HTS aufgenommen haben, hält Panchard für Pragmatismus. Er zieht einen Vergleich zu Afghanistan, wo Europa seinerzeit zu wenig Engagement zeigte und so radikalen Kräften indirekt Vorschub leistete.


Türkei greift Rojava weiter an

Derweil setzt die Türkei ihre Angriffe auf Nord- und Ostsyrien fort. Hierbei nutzt sie vornehmlich Söldnerarmeen, wie ihre dschihadistische Proxymiliz SNA. Gegen diese Angriffe werden aktuell insbesondere der Tişrîn-Staudamm und die Qereqozax-Brücke von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) verteidigt. Panchard sieht in dieser Politik eine Fortsetzung der türkischen Strategie, die schon beim Angriff auf Kobanê und später bei der Besatzung Efrîns deutlich wurde:
„Was wir jetzt beobachten, knüpft nahtlos an frühere Aggressionen der Türkei an. Neu ist lediglich, dass Erdoğan immer öfter auf Milizen setzt, um den Anschein zu vermeiden, unmittelbar zu intervenieren. Er verfolgt damit eine ähnlich indirekte Taktik wie Iran in anderen Konfliktregionen. Doch die türkische Führung unterschätzt regelmäßig, wie entschlossen und kampferfahren die kurdischen Kräfte sind – und vor allem, dass diese Kämpfer:innen ein konkretes politisches Projekt verteidigen.“

Gerade der ideologische Rückhalt und die Vision einer demokratischen Selbstverwaltung seien es, die Rojava stark machten. „Die SNA-Milizen dagegen eint nur ihre Abhängigkeit von Ankara. Sie haben kein eigenes politisches Programm und verteidigen kein eigenes Land“, so Panchard.

Einzigartiges Projekt mit echtem Demokratieanspruch“

In seinem kürzlich in der Schweizer Zeitung „Blick“ erschienenen Artikel lobte Panchard die in Rojava umgesetzten Prinzipien von Demokratie, Pluralismus, Gleichberechtigung und Ökologie als wegweisend – gerade vor dem Hintergrund der schwierigen Sicherheitslage. Diesen Respekt bekräftigt er im Gespräch mit ANF: „Was mich an Rojava fasziniert, ist die Ernsthaftigkeit, mit der man beispielsweise eine Geschlechterquote umgesetzt hat: Es gibt das Ko-Vorsitz-System, bei dem jede Institution von je einer Frau und einem Mann geleitet wird. Auch die Idee einer basisdemokratischen Verwaltung, die verschiedenste Volks- und Religionsgruppen einbezieht, ist weit fortgeschritten, trotz massiver Angriffe. Das verdient enormen Respekt.“

Rojavas Demokratie teils fortgeschrittener als in Europa

Panchard ist überzeugt, dass Rojava in einer zukünftigen föderalen oder konföderalen Ordnung Syriens als inspirierendes Beispiel dienen kann: „Die Bausteine für einen sozialen, ökologischen und multiethnischen Staat sind hier erkennbar. In gewisser Weise existiert bereits eine ‚Demokratie von unten‘ – etwas, das wir in Europa oft nur predigen, aber nicht real umsetzen.“

Europa darf Erdoğan nicht länger fürchten – Sanktionen statt Wegsehen“

Seit der militärischen Niederlage des „IS“ seien die kurdischen Kräfte in Syrien wiederholt von den westlichen Staaten im Stich gelassen worden: Türkische Truppen besetzten mit internationaler Billigung Gebiete in Syrien. Auch Europa habe im Wesentlichen dazu geschwiegen. Panchard erklärt dieses Verhalten mit der „Erpressungspolitik“ Ankaras in der Migrationsfrage: „Erdoğan droht stets damit, die Grenzen zu öffnen und Geflüchtete Richtung Europa zu schicken. Und da in vielen EU-Ländern Populismus und Fremdenfeindlichkeit wachsen, hat man Angst vor weiterer Massenmigration. Doch wir müssen endlich von dieser Angstpolitik wegkommen und unsere Werte verteidigen. Das heißt auch, Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, wenn sie weiter völkerrechtswidrig in Syrien eingreift.“

Konkrete Schritte: „Waffenexporte stoppen und diplomatischen Druck erhöhen“

Der Lokalpolitiker schlägt mehrere Maßnahmen vor, um Rojava zu schützen und die Türkei zur Umkehr zu bewegen:

1. Ende der Waffenverkäufe an die Türkei: „Hier kann die Schweiz ein Zeichen setzen. Selbst wenn es sich ‚nur‘ um Kriegsmaterial handelt, das indirekt zum Einsatz kommt, muss es gestoppt werden.“

2. Gezielte Sanktionen gegen das türkische Regime und dessen Wirtschaftseliten: „Warum sollte man nicht ähnliche Maßnahmen ergreifen wie gegen die russischen Oligarchen? Die Möglichkeiten reichen von Einreiseverboten über das Einfrieren von Konten bis hin zum Entzug diplomatischer Privilegien.“

3. Diplomatische Bemühungen: „Die UNO und einzelne Staaten haben weiterhin Einfluss. Erdoğan nutzt jede Gelegenheit zu zeigen, dass Diplomatie nicht mehr funktioniert. Aber diese Taktik darf man ihm nicht durchgehen lassen. Diplomatie hat durchaus Macht, wenn sie konsequent eingesetzt wird. Es braucht ein klares Bekenntnis zum Schutz Rojavas und eine internationale Mission, die diesen Schutz tatsächlich bietet.“

4. Unterstützung der kurdischen Exil-Community: „Die kurdische Gemeinschaft in Europa ist groß und gut vernetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen können mehr tun, um diese Diaspora zu stärken. Gleichzeitig sollten wir unsere Regierungen daran erinnern, dass ein starkes Engagement für Rojava ein Engagement für Stabilität, Demokratie und Menschenrechte in der ganzen Region ist.“

Rojava verdient unseren Respekt und unsere Solidarität“

Zum Abschluss betont Ilias Panchard noch einmal, warum ihm die Zukunft Rojavas und der kurdischen Freiheitsbewegung persönlich am Herzen liegt:
„Ich habe in meinem Leben selten so viel Mut, Ausdauer und demokratische Überzeugung gesehen wie bei den Kurd:innen, die trotz widrigster Umstände ein Gesellschaftsprojekt in die Tat umsetzen. Als ich vor einiger Zeit einer Gerichtsverhandlung gegen Figen Yüksekdağ beiwohnen durfte, war ich beeindruckt von ihrer Haltung und Entschlossenheit. Solche Beispiele zeigen, welche Kraft in dieser Bewegung steckt. Es ist mir eine Ehre, diese Menschen zu unterstützen und ich rufe alle Demokrat:innen dazu auf, das Gleiche zu tun. Europa – und insbesondere meine Heimat Schweiz – darf nicht länger stillhalten. Wir müssen uns entschieden für Rojava einsetzen und dieses Modell verteidigen.“

Roajava – die Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

Die ab 2012 aufgebaute Selbstverwaltung in Rojava sieht sich seit ihrer Gründung massiven Bedrohungen ausgesetzt – von islamistischen Milizen bis hin zu türkischen Besatzungsversuchen. Dass das Projekt dennoch fortbesteht, führt Panchard auf den ungebrochenen Widerstandsgeist der Menschen vor Ort zurück. Es bleibe zu hoffen, dass europäische Regierungen diese Ausdauer endlich zum Anlass nehmen, um aktiv zu werden und den demokratischen Aufbau in Nord- und Ostsyrien nicht den Zerstörungsplänen eines Erdoğan-Regimes zu überlassen.