Ilham Ehmed: Das neue Syrien wird kein Zentralstaat sein

Die kurdische Spitzenpolitikerin Ilham Ehmed hält sich derzeit in Berlin auf, wo sie am Ostersonntag an einer Veranstaltung zur Lage und Zukunft Syriens teilnahm. Dabei ließ sie auch Kongresspläne einer neuen syrischen Opposition durchblicken.

Die kurdische Politikerin Ilham Ehmed, Exekutivausschussvorsitzende des Demokratischen Syrienrats (MSD), hält sich derzeit zu einer Serie von Gesprächen in Berlin auf. Am Sonntag nahm sie im Karl-Liebknecht-Haus an einer Veranstaltung zur Zukunft von Rojava teil. Im vollbesetzten Rosa-Luxemburg-Saal sprach Ehmed über die aktuellen Entwicklungen in Syrien, die Beziehungen unter den Kurd:innen und die Angriffe auf das nordostsyrische Autonomiegebiet.

„Der Ukraine-Krieg wird das internationale System beeinflussen“

Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erklärte Ehmed zunächst, dass eine Verschärfung des Konflikts auch weitreichende Auswirkungen auf den Nahen Osten hätte. „Der Krieg in der Ukraine hat das Potential das Weltsystem zu verändern. Die Völker und Gesellschaften des Nahen Ostens haben am meisten Schaden durch die jüngeren Kriege erlebt. Es scheint, als ob diese Kriege noch verlängert werden. Bisher gab es im internationalen System einen gewissen Zusammenhalt unter den Herrschenden. Aber mit dem Ukraine-Krieg hat sich das Gleichgewicht verändert, und es wird sich noch weiter ändern. Seit Beginn der russischen Invasion ist der Krieg in Syrien de facto eingefroren. Niemand spricht mehr über ihn.“

„Die Türkei ist Quelle der Instabilität der Region“

Ehmed beschrieb Syrien als in drei Hauptregionen geteiltes Land. Auf der einen Seite die vom Regime beherrschten Gebiete, auf der anderen Seite die von der Türkei besetzten Regionen und zuletzt die Autonomieregion. „Es gibt zwischen den Gebieten klare Grenzen. Der Übertritt von einem Gebiet in das andere ist schwer. Aber die Türkei sucht bestimmte Gebiete in Rojava aus und greift diese an. Die Türkei spielt eine destabilisierende Rolle in der Region. Das ist ihre tagtägliche Politik. Sie greift die Orte, die sie nicht erreichen kann, mit Drohnen an. Diese Politik richtet Ankara nicht nur gegen die Kurd:innen, sondern blockiert alle demokratischen Projekte in der Region. Der türkische Staat verübt Massaker an den arabischen, kurdischen und christlichen Gemeinschaften, die ein gemeinsames Projekt in Syrien schaffen. Die Türkei verhindert jedes demokratische Projekt, das nicht unter ihrer Kontrolle steht. Sie ist ein expansionistischer Besatzerstaat. Efrîn war kein Staat, aber hat trotz der ganzen NATO-Technik der Türkei 58 Tage lang widerstanden. Die Ukraine heute ist ein Staat, aber man sieht ihre Lage.“

„Die Menschen aus Rojava müssen für Efrîn vor Gericht ziehen“

In Bezug auf die dramatische Lage in Efrîn sprach Ilham Ehmed von Verbrechen, die den Tatbestand des Völkermords erfüllten. „Die Türkei bezeichnet sich nicht als Besatzer. Sie sagt, dort gebe es nur Söldner, und entzieht sich der Verantwortung. Efrîn hat aber keine offizielle Verwaltung und ist an die Provinzverwaltung von Antep angebunden. Der türkische Gouverneur von Antep kommt immer wieder zu Besuch. Serêkaniyê und Girê Spî wurden an Urfa angebunden. Alle Befehle und Anordnungen kommen vom Gouverneur von Urfa. De facto regiert er dort.“

Den Menschen aus Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî im Exil legte Ilham Ehmed nahe, gegen die Besatzung zu klagen. Es gebe entsprechende Anlaufstellen in Europa und Vertretungen der Selbstverwaltung, die Unterstützung für Klagen vor internationalen Gerichten bieten könnten. „Wir werden uns Efrîn zurückholen, ob militärisch oder politisch. Es ist wahr, der türkische Staat greift überall an und schlägt um sich, aber es gibt auch den Widerstand der Völker.“

„Die Bedrohung durch den IS besteht weiter“

Ein weiteres Problem der selbstverwalteten Gebiete sind die unzähligen IS-Dschihadisten und ihre Angehörigen, die in Haftzentren und Auffanglagern festgehalten werden. Ehmed warnte vor einer großen Gefahr, die für die Region bestehe. „Niemand hat einen wirklichen Lösungsvorschlag, was die IS-Gefangenen betrifft. Auch für die Menschen in den Camps gibt es keine dauerhafte Lösung. Die Bedrohung durch den IS geht weiter. Der IS ist wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment explodieren könnte.“ Zwar gebe es beim MSD konkrete Lösungsmöglichkeiten, die aber beim Regime auf taube Ohren stießen.

„Der Dialog mit Hewlêr ist abgerissen“

Ein weiteres Thema der Veranstaltung war der innerkurdische Dialog und die politische Lage in der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan). Die Region wird in großen Teilen von der Barzanî-Partei PDK dominiert, die eng mit dem türkischen Faschismus kollaboriert. Laut Ehmed seien die vergangenen Gespräche zwischen der aktuellen Barzanî-Regierung und der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens nach der Ermordung von mehreren Guerillakämpfer:innen durch PDK-Truppen vollständig gestoppt worden. „Denn mit diesen Vorfällen endete die Gesprächsgrundlage. Die Kinder der Völker von Rojava kämpfen ebenfalls in der Guerilla. Rojava ist dabei sich einen Status zu schaffen. Währenddessen ist der Status von Südkurdistan in Gefahr. Alle kurdischen Kreise sollten heute über den Status der Kurd:innen nachdenken und dafür kämpfen. Wenn die PKK heute ausgeschaltet würde, würde morgen die Regierung in Hewlêr an die Reihe kommen. Man muss sich nur an die Haltung der PKK und die der Türkei während des Unabhängigkeitsreferendums in Südkurdistan erinnern. Während die PKK den Willen der Menschen anerkannte, hat der türkische Staat mit Invasion gedroht. Das, was die Türkei beabsichtigt, ist klar. Sie strebt nach der Umsetzung ihrer osmanischen Träume. Wenn die südkurdische Regierung eine Beziehung mit der Türkei hat, dann sollte sie diese für die kurdischen Interessen einsetzen.“

„Das neue Syrien wird kein Zentralstaat sein“

Ilham Ehmed berichtete abschließend von einem Treffen des MSD mit oppositionellen Kreisen aus Syrien. Bei der Zusammenkunft in der schwedischen Hauptstadt Stockholm habe sich die syrische Opposition dazu entschlossen, einen Kongress zu schaffen. Dazu erklärte Ehmed: „In der Opposition gibt es Suryoye, Assyrer:innen, Kurd:innen, Araber:innen und Vertreter:innen aller anderen Völker der Region. Es wird ein neues Syrien errichtet werden. Wenn Syrien ein Staat werden sollte, dann wird es kein Zentralstaat werden. Es kann ein Föderalstaat, eine Föderation aus autonomen Gebieten oder ähnliches werden. Es wird aber ein neues Syrien sein.“