Hamburger Polizei eröffnet öffentliche Hetzjagd

Fünf Monate nach den Auseinandersetzungen beim G20-Treffen in Hamburg präsentiert eine extra eingerichtete „Sonderkommission (SoKo) Schwarzer Block“ Fotos und Videosequenzen, mit denen öffentlich nach 104 Verdächtigen gesucht werden soll.

Während und nach dem G20-Treffen in Hamburg wurden und werden neue Methoden der Repression gegen Linke und Menschenrechtler*innen erprobt. Das geschieht sowohl auf der Ebene des Handelns der Polizei, wie auch seitens der Justiz. Eines der Ziele ist dabei sicherlich die Verhinderung von zukünftigen (internationalen) Protesten gegen die zunehmend autokratische Vorgehensweise der Herrschenden, soziale Ungleichheit und Krieg. Ein weiteres Ziel ist, einige Grundrechte und die Versammlungsfreiheit in ihrer jetzigen Form in Frage zu stellen. Dieses Vorgehen entspricht Strategiepapieren der Sicherheitspolitiker*innen sowie Think-Tanks auf der Ebene der EU (EU-Kommission und EUISS) und der Bundesrepublik (Innenministerium und SWP). Am Montag begann die Polizei Hamburg in diesem Rahmen mit einer sogenannten Öffentlichkeitsfahndung.

Fünf Monate nach den Auseinandersetzungen beim G20 präsentierte eine extra eingerichtete „Sonderkommission (SoKo) Schwarzer Block“ Fotos und Videosequenzen, mit denen öffentlich nach 104 Verdächtigen gesucht werden soll. Auf der Webseite der Hamburger Polizei können dazu unter Stichworten wie „Rondenbarg“, „Elbchaussee“ oder „Plünderungen“ Videos angesehen werden, auf denen zu sehen ist, wie demonstriert wird, Polizist_innen und Demonstrierende rangeln, Autos angezündet werden oder Menschen ein Geschäft plündern. Unter den Videos befinden sich Fotos, die einzelne Menschen zeigen. Was ihnen jeweils vorgeworfen wird oder ob ihnen überhaupt etwas vorgeworfen wird, ist nicht ersichtlich.

Der Journalist Heribert Prantl kommentierte diese „Öffentlichkeitsfahndung“ in der Süddeutschen Zeitung: „Es gehört zu den Aufgaben von Polizei und Staatsanwaltschaft, Täter zu suchen. Es gehört nicht zu den Aufgaben von Polizei und Staatsanwaltschaft, bei dieser Suche Mittel einzusetzen, die unverhältnismäßig, untauglich und gefährlich sind. (...) Es handelt sich um die Aufforderung, eine Vielzahl von Menschen zu jagen, deren Tat oder Tatbeitrag völlig ungeklärt ist.

Diese Art von Fahndung geht über das, was der Paragraf 131b Strafprozessordnung erlaubt, weit hinaus. Die Ermittler dehnen den Paragrafen bis zur Unkenntlichkeit aus. Sie unterscheiden nicht zwischen Beschuldigten und Nichtbeschuldigten, sie machen alle abgebildeten Personen zu Beschuldigten. Diese Form des Internet-Prangers ist gesetzeswidrig.“ Anwält_innen und Menschenrechtsorganisationen raten den Betroffenen sich trotz der Massivität dieser Maßnahme nicht in Panik versetzen zu lassen und sich rechtliche Beratung zu suchen.

Auch Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linken, kritisierte, „die Prioritätensetzung der Sicherheitsbehörden spricht für sich: Während fast 500 Neonazis mit offenen Haftbefehlen seit Jahren untergetaucht sind, macht die Hamburger Polizei öffentlichkeitswirksam Jagd auf G-20-Gegner. Steckbriefe wie zu Zeiten der RAF-Hysterie und Telefonhotlines öffnen Denunziantentum Tür und Tor“. Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, erklärte: „Stehen die Bilder erst einmal im Internet, kann die Polizei ihre Verbreitung und den Umgang damit nicht mehr kontrollieren. Egal ob die abgebildeten Personen einmal verurteilt oder freigesprochen werden, ihnen kann die lebenslange Stigmatisierung drohen. (…) Wie nebenbei wird die Demonstration von 76.000 Menschen am 8. Juli unter dem Motto ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ aufgrund eines begrenzten Zwischenfalls, der vom Veranstalter beendet werden konnte, zu einer der ‚gewalttätigen Versammlungen‘ erklärt.“

Bereits am 5. Dezember hatte die Sonderkommission eine bundesweite Razzia in Wohnungen von Teilnehmer_innen der Demonstration veranlasst, die am Morgen des 7. Juli im Industriegebiet Rondenbarg mit Polizeibeamten zusammengetroffen war. Die Beamten hatten die etwa 200 Menschen heftig attackiert. Dabei erlitten 14 Personen schwere Verletzungen, darunter 11 offene Brüche.

Ein Beispiel für das Vorgehen der Justiz ist deren Umgang mit Fabio V. aus Italien. Der 18-Jährige saß fünf Monate in Untersuchungshaft, obwohl ihm keine individuelle Tat, sondern lediglich die „psychologische Unterstützung“ von etwaigen „Pyrotechnik- und Steinewerfern“ am Rondenbarg vorgeworfen wurde. Das werteten Staatsanwaltschaft und Haftrichter_innen als schweren Landfriedensbruch. 20 der 30 länger in U-Haft Sitzenden waren, so wie Fabio V., nicht-deutsche Staatsbürger_innen, fünf Obdachlose. In mehr als 80 Prozent der 20 bereits entschiedenen Fälle führten die Vorwürfe lediglich zu Bewährungsstrafen, die allerdings mit meist 1 Jahr und 6 Monaten weit höher lagen als in vergleichbaren Fällen vor dem G20-Gipfel. Besonders hart traf es Peike S. aus den Niederlanden. Er wurde in erster Instanz zu 2 Jahren und 7 Monaten ohne Bewährung verurteilt, obwohl ihm keine Straftat nachgewiesen werden konnte. Er befindet sich momentan in der zweiten Instanz.

In mehreren Prozessen gegen G20-Aktivist*innen waren sogenannte Tatbeobachter der Polizei die einzigen belastenden Zeugen und sagten stark geschminkt und maskiert aus. Die Verteidigerinnen Britta Eder und Maja Beisenherz kritisieren, dass der Einsatz solcher Tatbeobachter grundgesetzwidrig sei und nicht dem Polizeiauftrag entspreche. Auch die Verfremdung durch Maske sei rechtswidrig. Tatbeobachter werden nach einem Beschluss der Innenministerkonferenz seit 1988 eingesetzt, ohne dass dafür je eine gesetzliche Grundlage geschaffen wurde. Die Tatbeobachter sind Zivilpolizisten in Demonstrationen mitgehen, um Straftaten zu beobachten. Um nicht aufzufallen und entdeckt zu werden, sollen sie auch selber Straftaten begehen können.

Der Jurist und Hamburger Regierungschef Olaf Scholz sowie Innenminister De Maiziere hatten kurz nach dem G20 mehrmals sehr hohe Strafen und ein konsequentes Vorgehen gefordert, was u.a. vom Grundrechtekomitee als Eingriff in die Gewaltenteilung (d.h. Trennung von Regierung und Justiz bzw. Exekutive und Judikative) kritisiert wurde. Während dies seitens der Justiz gegen Gipfelgegner*innen weitgehend so umgesetzt wird, entstand aus 115 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte bisher keine Anklage.


Martin Dolzer ist Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Fachsprecher für Europa, Frieden, Recht, Wissenschaft und Queer.