Im Rahmen des monatlich stattfindenden „TATORT Kurdistan Café“ im Centro Sociale in Hamburg stellte Reimar Heider, Sprecher und Übersetzer der Internationalen Initiative „Freiheit für Öcalan - Frieden in Kurdistan“, den vierten Band von Abdullah Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ vor. In dem Werk, das den Titel „Die demokratische Zivilisation - Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten“ trägt, beleuchtet Öcalan die geschichtlichen Ursachen der globalen Zivilisationskrise genauso wie die vielfältigen Traditionen von Widerstand und deren Potential, die kapitalistische Moderne zu überwinden.
Eröffnet wurde der Vortrag mit einer Ansprache zum Erdbeben, welches das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien erschütterte und von dem Menschen in Kurdistan besonders betroffen sind. Es wurde dazu aufgerufen, die Spendenkampagne von Heyva Sor a Kurdistanê e.V. zu unterstützen.
Reimar Heider begann die Buchvorstellung mit einer kurzen Zusammenfassung der Grundthesen der vorangegangenen drei Teile des insgesamt fünfbändigen Opus Magnum, in dem Öcalan seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt: „Öcalan analysiert die Geschichte der Zivilisation anhand einer Hauptachse, die den Konflikt zwischen staatlicher und demokratischer Lebensweise darstellt. Dabei ist die staatliche Zivilisation auf der Grundlage von Staaten, Klassen und an allererster Stelle dem Patriarchat entstanden. Das Patriarchat analysiert er als das erste Herrschaftsverhältnis in unserer Gesellschaft. Die kapitalistische Zivilisation, in der wir heute leben, bildet den Schlussteil der staatlichen Zivilisation. Die demokratische Zivilisation hingegen ist alles, was gegen diese Verhältnisse ankämpft und dadurch Repressionen durch die staatliche Zivilisation erfährt. Daher betrachtet Öcalan in seinen Analysen insbesondere die verschiedenen Formen der Organisierung von widerständischen Kräften.“
Heider berichtete, dass die älteste Form der sozialen Organisierung, die auch in Öcalans Texten beispielhaft analysiert ist, Stammessysteme sind, welche viel beständiger als der Staat seien, aber im modernistischen Denken als rückständig beurteilt würden. Öcalans Ansatz bestehe darin zu diskutieren, inwiefern Stammessysteme mit egalitären Paradigmen Freiräume schafften, um solidarisches und demokratisches Handeln zu verwirklichen.
Weiter gab Heider auch einen Einblick in die Analysen Öcalans im Hinblick auf die Zuspitzung der Konflikte im Nahen Osten. Diese seien zum einem auf die Konflikte zwischen Klassengesellschaft und Stammessystemen zurückzuführen und zum anderen auf das Zusammenbrechen der kapitalistischen Moderne. Diese habe ihren Ursprung im kapitalistischen Europa, ihre Entstehung ging mit globalen Machtverschiebungen einher: Mit dem Zerschlagen des Osmanischen Reiches und dem Aufbau von Nationalstaaten brachte die kapitalistische Moderne Ideologien in den Nahen Osten, die letztendlich zur Zersplitterung Kurdistans auf vier Nationalstaaten, jahrhundertlange Repression, Genozid und Krieg führten.
Mit zwei Leseproben gab Heider anschließend einen spannenden Einblick in den vierten Band von Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“. Eine davon weise einen für Öcalan untypischen philosophischen Charakter auf. Heider unterstrich die Suche des kurdischen Vordenkers nach Wahrheit, den idealistischen Ansatz und sein Verständnis von Geschichte, die er als Streben nach Freiheit und Erkenntnis verstehe. Das Werk soll pünktlich zur Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern“ erscheinen, die vom 7. bis zum 9. April an der Universität Hamburg unter dem Leitspruch „Wir wollen unsere Welt zurück! - Widerstand, Rückforderung und Wiederaufbauen!“ stattfinden wird.