Am Mittwoch fand in Hamburg das monatliche TATORT Kurdistan Café statt. Mehr als 40 Menschen kamen zu der Veranstaltung, welche sich um die aktuelle Lage in Rojava drehte.
Zuspitzung in ganz Kurdistan
Anne von Women Defend Rojava, ein FLINTA-Verteidigungsbündnis für die Revolution von Rojava, gab vorab einen kurzen Überblick über die aktuelle Situation.
Seit Monaten schon habe sich in fast allen Teilen Kurdistans die Lage verschärft. In Südkurdistan habe die türkische Armee eine neue Invasion gestartet, mit Giftgas und heftiger Bombardierung. Zudem baue die Türkei ihre Militärbasen massiv aus, die Besatzung erfolge in Kooperation mit der vom Barzanî-Clan dominierten Partei PDK. Die Zivilbevölkerung leide enorm unter den Angriffen, sie soll so verdrängt werden.
In Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien werden die Drohungen einer erneuten Invasion ebenfalls lauter. Besonders im Zuge der NATO-Beitrittsverhandlungen erhoffe sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan grünes Licht für die Ausweitung seiner geplanten „Sicherheitszone“, sowie (noch mehr) Unterstützung bei der Repression der kurdischen Bewegung in Europa. Gleichzeitig finden jedoch schon beinahe täglich in der Region Angriffe statt, sowohl durch Drohnen als auch durch Artillerie. Welche Auswirkungen die Ausweitung der Besatzung hätte, sei bereits in den anderen besetzten Gebieten sichtbar: tägliche Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigungen, Assimilierungsversuche.
Im Ziel der Drohnenangriffe stünden nicht nur Personen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ). Auch Zivilist:innen würden immer wieder getroffen, zudem werden gezielt Politiker:innen und Persönlichkeiten aus kulturellen Bereichen angegriffen. Dies zeige umso stärker, dass sich der Angriff nicht nur gegen Kurd:innen richtet, sondern gegen die Revolution an sich.
Verteidigung der Revolution ist eine Aufgabe für alle
Die Charakteristika und Errungenschaften der Revolution, also Basisdemokratie, Feminismus, Ökologie, stelle nicht nur für die Türkei, sondern für alle hegemonialen Mächte einen Dorn im Auge dar. Umso mehr sei auch die Verteidigung der Revolution eine Aufgabe für uns hier.
Kriegssituation ist akut
Auch in der Liveschaltung nach Rojava ging es zunächst um die aktuelle Lage: „Wir befinden uns quasi schon in einer Kriegssituation. Aber das ist leider nichts neues für die Bevölkerung. Schon 2018 und 2019 griff die türkische Armee und Efrîn und Serêkaniyê an und besetzte die Region.“
Im Zuge der NATO-Erweitung habe es eigentlich eine indirekte Zusage zu einer neuen Invasion gegeben. Immer wieder würden Kurd:innen bei geopolitischen Entscheidung zum Spielball werden. Die Lage in der Türkei lasse nur diesen Krieg zu – sie führe auch in Südkurdistan einen Krieg gegen die Guerilla, sogar unter Einsatz von chemischen Waffen. Dennoch schaffe es die Türkei nicht, dort ihre Pläne durchzusetzen. Deshalb bleibe nur noch dieser Krieg, um von der innenpolitischen Lage abzulenken.
Bevölkerung bereitet sich vor
Die Ziele der aktuellen Drohungen seien zunächst Tel Rifat und Minbic. Letztere ist eine multiethnische Stadt, die mehrheitlich arabisch bewohnt ist. Erdoğans Argument laute, dort Geflüchtete anzusiedeln. Jedoch sei das Problem: diese kämen nicht aus der Region und seien zumal oftmals Angehörige islamistischer Banden. In Tel Rifat wiederum leben viele Geflüchtete aus Efrîn – diese Menschen müssten nun erneut fliehen. Am Mittwoch haben die Selbstverwaltungsstrukturen den Ausnahmezustandes ausgerufen. Es finde nun eine Art Generalmobilisierung statt: „Alles wird getan, damit die Bevölkerung vorbereitet ist, wenn es zum Krieg kommt.“
Krieg gegen das demokratische Zusammenleben
Jedoch sollte nicht so getan werden, als ob der Krieg als „großer Knall“ kommt. Es finde schon die ganze Zeit ein Krieg niedriger Intensität statt. Nicht nur die Kurd:innen, auch alle anderen Menschen leiden darunter, wie etwa die christlichen Minderheiten. Es sei ein Krieg gegen alle Minderheiten und ein Krieg gegen das Konzept des demokratischen Zusammenlebens. Psychologische Kriegsführung finde permanent durch die Drohnenangriffe statt, damit die Bevölkerung eingeschüchtert werde. Nicht nur Mitglieder der Verteidigungskräfte, sondern alle, die respektiert werden, stünden in der Zielscheibe. Die Bevölkerung soll von den revolutionären Ideen getrennt werden. Der Waffenstillstand aus den Zeiten der Serêkaniyê-Invasion existiere nur auf dem Papier. Alles in allem sei „es jedoch nicht die Frage ob, sondern wann“ der „große Krieg“ ausbreche. Und wenn er kommt, werde es ein Krieg um das Sein oder Nichtsein werden.
Die Strategie Erdogans beruhe darauf, islamistische Söldnergruppen einzusetzen, darunter viele ehemalige IS-Kämpfer. In den besetzten Gebieten finde jetzt schon demografischer Wandel statt, dort seien zudem quasi islamistische Terrorregime an der Macht. Der IS sei in Nord- und Ostsyrien immer noch eine große Gefahr. Wenn neuer Krieg ausbricht, werde der IS noch stärker.
Moral ist hoch
In der Bevölkerung jedoch sei die Moral hoch. Sie sei organisiert, in den Kommunen und Versammlungen würden Taktiken besprochen. Dort werde bekräftigt, es werde alles getan, um sich zu verteidigen. Insbesondere Frauen jeden Alters würden sich an den Waffen schulen. Man fahre die Strategie des revolutionären Volkskrieges – die Bevölkerung solle mit den Selbstverteidigungskräften zusammen zu einer revolutionären Masse verschmelzen. Alle seien entschlossen und davon überzeugt, auch die besetzten Gebiete zu befreien, wenn der Krieg kommt.
Forderung der Bevölkerung an die Menschen in Europa
Die Menschen müssen sich jetzt organisieren und Pläne schmieden. Man solle auf die deutsche Mitbeteiligung aufmerksam machen. Jede Aktion, die hier gemacht wird, würden die Menschen dort sehen – so wie am Mittwoch die Besetzung des Büros der Grünen in Frankfurt/Main. Das gebe den Menschen Kraft und Hoffnung. Und auf diese Kräfte würden die Kurd:innen vertrauen – auf die feministischen, linken, demokratischen Kräfte weltweit.
Unterstützung der internationalen Kampagnen Women Defend Rojava und RiseUp4Rojava
Zudem solle man in die ideologische Auseinandersetzung mit den Zielen der Revolution treten. In den letzten Jahren waren so viele Internationalist:innen aus der ganzen Welt in Rojava, die hier eine wirkliche Alternative sehen. Insbesondere die Frauenrevolution biete Errungenschaften, die weltweit Hoffnung machen. Die Verbreitung des Paradigmas sei mit der wichtigste Schutz der Revolution. Und was aufgebaut wurde, biete auch Lösungsansätze für die ganze Welt. Denn: der beste Schutz vor dem zunehmenden faschistischen Tendenzen sei die Überwindung von Kapitalismus und Patriarchat. Deshalb die Aufforderung: „Diskutiert das Paradigma in euren Gruppen!“ Und: „Verteidigt die Revolution mit allen Mitteln, sonst sieht die Zukunft dort sehr düster aus.“
Bündnisse in Hamburg
Auch in Hamburg gibt es die Möglichkeit, sich den Kampagnen Womend Defend Rojava und RiseUp4Rojava anzuschließen. Bei Interesse und für weitere Informationen kann man sich unter [email protected] melden.