Gegen Chemiewaffen: „Marsch für die Menschlichkeit“ in Istanbul

Trotz polizeilichem Großaufgebot, Blockaden und Gewalt sind in Istanbul zahlreiche Menschen auf die Straße gegangen, um türkische Chemiewaffeneinsätze in Südkurdistan anzuprangern und eine unabhängige Untersuchung einzufordern.

Trotz polizeilichem Großaufgebot, Blockaden und Gewalt sind in Istanbul zahlreiche Menschen am Sonntag auf die Straße gegangen, um die Chemiewaffeneinsätze der Türkei in der Kurdistan-Region Irak (KRI) anzuprangern und eine unabhängige Untersuchung durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) einzufordern. Aufgerufen zu der Demonstration unter dem Motto „Marsch für die Menschlichkeit“ hatten die Demokratische Partei der Völker (HDP) und ihr Organisierungsgremium HDK zusammen mit dem Bündnis „Vereinte Kampfkräfte“ (BMG). An dem Protest beteiligten sich führende Politikerinnen und Politiker, Parlamentsabgeordnete sowie Aktive der kurdischen Zivilgesellschaft.

Sternmarsch auf die Istiklal Caddesi

Die ursprüngliche Route der Demonstration sollte vom Taksim-Platz im zentralen Stadtteil Beyoğlu über die Einkaufsmeile Istiklal hin zum Tünel-Platz führen. Die Polizei ging mit zahlreichen Anti-Aufruhr-Einheiten in Stellung, in den zur Istiklal führenden Seitenstraßen wurden Barrikaden errichtet und Polizisten in Zivil zusammengezogen, die die Umgebung patrouillierten und in der Nacht an vielen Orten im Bezirk angebrachte Plakate mit dem Schriftzug „Chemiewaffeneinsätze sind Kriegsverbrechen – Kommt zum Marsch für die Menschlichkeit“ entfernten. Dennoch gelang es in nahezu jeder Nebenstraße, die Absperrungen zu überwinden. Die Szenen glichen einem Sternmarsch auf die Istiklal. Immer wieder fielen die Parolen „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“, „Nein zu Kriegsverbrechen“, „Die Unterdrücker können uns nicht einschüchtern“ und „Gefallene sind unsterblich“.


Sezai Temelli: Wer gegen Chemiewaffen nicht aufbegehrt, ist Teil des Verbrechens

Vor dem Sitz der Istanbuler Anwaltskammer versammelte sich die Menschenmenge zu einer Kundgebung, die umgehend von der Polizei einkesselt wurde. Die HDP-Abgeordneten Gülistan Kılıç Koçyiğit, Fatma Kurtalan, Sezai Temelli, Tayip Temel und Ayşe Sürücü waren über die Mis Sokak auf die Einkaufsmeile Istiklal gezogen und befanden sich ebenfalls im Kessel. Der türkische Politiker Sezai Temelli hielt eine viel applaudierte Rede: „Wir stehen einem Regime gegenüber, dass sich mit Festnahmen und Verhaftungen gegen all jene durchzusetzen versucht, die sich gegen den Krieg positionieren. Şebnem Korur Fincancı ist eine von ihnen. Ohne rechtliche Grundlage ist sie im Gefängnis. Warum? Weil sie sich dafür ausgesprochen hat, Vorwürfe über den Einsatz von chemischen Waffen zu untersuchen. Diese Forderung stellen auch wir. Denn der Einsatz von Chemiewaffen ist ein eklatanter und brutaler Verstoß gegen das Völkerrecht. Wer dagegen nicht aufbegehrt, ist Teil des Verbrechens. Wir alle erleben gemeinsam, wie verheerend Krieg ist. Sich gegen Krieg auszusprechen bedeutet, sich gegen Armut auszusprechen. Deshalb sagen wir, erhebt eure Stimmen, wo immer ihr auch seid. Fürchtet ihr euch, laut zu werden, wird euch am Ende nur das bleiben, was diese feige Regierung am Leben hält: Waffen und Gewalt.“

Polizei, wohin das Auge blickt | Foto: MA

Temelli kündigte an, dass die Proteste seiner Partei und Mitgliedsorganisationen weitergehen würden, bis das Ziel einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe erreicht sei.

Viele Festnahmen

Am Rande der Demonstration kam es zu einer bisher unbekannten Zahl an Festnahmen. Zahlreiche Menschen wurden von der Polizei drangsaliert und mit auf dem Rücken gefesselten Händen von der Straße gezerrt. Unter den Betroffenen befinden sich auch mehrere Aktivist:innen der kurdischen Gefangenensolidarität, die seit Monaten mit ihren wöchentlichen „Gerechtigkeitswachen“ in Istanbul die Freilassung ihrer kranken Angehörigen fordern. Im nordkurdischen Silopiya in der Provinz Şirnex (tr. Şırnak) finden heute ebenfalls ein „Marsch für die Menschlichkeit“ statt.