Ihr seid ja als Teil einer Frauendelegation zur Wahlbeobachtung in die Türkei gefahren. Was waren eure Erfahrungen heute am Wahltag?
Angelika (beobachtet für die Linke, Rhein-Sieg-Kreis): Ich war mit einem Kollegen aus Hamburg begleitet von einem Anwalt unterwegs. Im ersten Wahllokal gab es überhaupt keine Probleme. Wir haben nur gesehen, dass eine Wahlurne nicht versiegelt war, aber nachdem wir das gemeldet hatten, wurde sie versiegelt. Wir sind dann zur nächsten Schule gefahren, am Eingang stand die Polizei, vier bis fünf Polizisten, alle bewaffnet. Sie verwehrten uns den Zugang zum Wahllokal, da wir nicht offiziell registriert seien. Unsere Schreiben haben sie nicht anerkannt. Sie sagten uns, dass wir kein weiteres Wahllokal mehr aufsuchen dürften. Wir sind dann zum HDP-Büro gegangen und dort erwartete uns die Polizei aufs Neue. Sie interessierten sich nun für unsere Personalien und nahmen unsere Reisepässe weg und machten uns ausdrücklich klar, wir hätten den Ort sofort zu verlassen. Der Zuständige der HDP riet uns dann dazu, nach Amed zurück zu fahren.
Leonie (beobachtet für 3.Welt Saar): Wir waren in Dicle, wir hatten ähnliche Probleme wie Angelika. Wir sind in das erste Wahllokal gegangen, dort wurde uns erzählt, dass bewaffnetes Militär reingegangen sind, kurz bevor wir kamen, was aber der Wahlleiter dort nicht akzeptiert hat. Er hat sie dann aus dem Wahllokal herausgeschickt, was wohl etwas schwierig war. Als wir rausgingen, hat uns das Militär aufgehalten und wollte eine offizielle Registrierung sehen. Das hatten wir natürlich nicht, sie wollten unsere Personalausweise sehen, um Informationen über uns zu bekommen, wollten auch Fotos davon machen, was wir abgelehnt haben. Wir sind dann gegangen und zur HDP-Zentrale in Dicle gefahren. Als wir dann weiter wollten, sind wir in keine Wahllokale mehr reingekommen, da sie sich schon abgesprochen hatten. In einem Wahllokal wollte das Militär den Ausweis einer Delegationsteilnehmerin fotografieren und auch als wir ins Auto gestiegen sind, haben sie uns fotografiert. Und dann war die Situation schon irgendwann sehr intensiv, die beiden letzten Wahllokale haben wir dann nicht mehr besucht, denn der Anwalt hat gesagt, dass es nicht mehr sicher ist. Der Anwalt hat uns erzählt, dass in fast allen Wahllokalen Polizei, Militär oder bewaffnete Milizen präsent waren, also in den Abstimmungsräumen. In einem Wahllokal mussten die Leute eine offene Stimmabgabe machen, mussten zeigen, was sie wählen. Er hat uns auch erzählt, dass auch in den kleineren Städten die Leute massiv unter Druck gesetzt wurden, auch nachdem sie wählen waren, bedroht wurden, weshalb in manchen Wahllokalen wohl eine sehr geringe Beteiligung an den Wahlen stattgefunden hat.
Insgesamt war unser Eindruck, dass es auf jeden Fall keine faire Wahl war, es gab viel offene, viel direkte viel unterschwellige Manipulation. Im ganzen Südosten wurden Wahlbeobachterinnen aufgehalten, festgehalten und festgenommen. Es gab extreme Probleme. Also das war für uns ein großes Sicherheitsrisiko. Insgesamt hat definitiv und viel Wahlmanipulation stattgefunden, das Militär und die Milizen vor Ort waren sehr präsent.
Wie habt ihr die Stimmauszählung mitbekommen?
Leonie: Wir aus Dicle durften nicht in die Wahllokale und auch nicht bei der Auszählung dabei sein.
Angelika: In Amed waren wir dann bei den Auszählungen dabei. In der ersten Schule war das sehr problematisch, sie wollten uns nicht reinlassen. Wir haben mit den Polizisten verhandelt und den Vorgesetzten verlangt. Dann durften wir in Begleitung von fünf bis sechs Polizisten hineingehen. Bei der zweiten Schule gab es keine Probleme. Dort haben wir gesehen, dass in einem Zimmer nur vorgelesen wurde und sie nicht zeigen wollten, was wirklich auf den Stimmzetteln stand.
Leonie: Wir wissen nicht, wie repräsentativ das war. Wir wissen nur, dass die meisten Wahlbeobachterinnen nicht reingekommen sind und insofern können wir nicht so viel dazu sagen. Wir haben viel versucht, wir haben versucht zu verhandeln und wurden dann auch danach beobachtet. Da war dann ab einem gewissen Punkt nichts mehr möglich.
Wie ist denn jetzt gerade die Stimmung bei euch?
Angelika: Also die Stimmung ist unglaublich ausgelassen, es sind Tausende Menschen um die HDP-Zentrale in Amed herum. Es wird gesungen, getanzt, wir hören „Bijî HDP!“-Rufe überall, die Leute auf der Straße sind extrem glücklich. Diese Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden war unglaublich wichtig für die Leute. Seitdem die Hürde gefallen ist, interessiert sich die Bevölkerung kaum mehr für die Präsidentschaftswahlen, sie feiern einfach mit einer unglaublichen Begeisterung den Einzug ins Parlament. Während die Verantwortlichen der HDP mit ernsten Mienen herumlaufen, weil noch unklar ist, was die offiziellen Zahlen mit einer Mehrheit für Erdoğan in der Präsidentschaftswahl und einer noch unklaren Situation im Parlament nun für die Zukunft in der Parlamentsarbeit und vor allem die kurdische Region bedeuten.