Fehlmann Rielle: Wir brauchen eine internationale Bewegung

Laurence Fehlmann Rielle, Mitglied des schweizerischen Nationalrates, verweist hinsichtlich der Isolation Öcalans auf die Verantwortung des Europarates und des CPT.

Laurence Fehlmann Rielle, die als Abgeordnete für die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) im schweizerischen Nationalrat sitzt, kennt sich nicht nur mit den politischen Verhältnissen in der Türkei gut aus, sondern verfolgt auch die kurdische Frage mit großen Interesse. Wir haben mit ihr über die politischen Entwicklungen in der Türkei, die Haltung Europas und die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan gesprochen.

Keine Hoffnung hinsichtlich der Zukunft der Türkei

Wie würden Sie als Kennerin der türkischen Politik die aktuelle politische Situation in der Türkei zusammenfassen?

Zunächst einmal nimmt unsere Besorgnis hinsichtlich der Lage in der Türkei täglich zu. Mit seinem letzten Wahlsieg hat Erdoğan das von ihm gewünschte System implementiert und die Rechtsverletzungen im Land nehmen immer neue Dimensionen an.

Nach seinem Wahlerfolg hat Erdoğan allen Gesellschaftsteilen seine Autorität übergestülpt. Mit dieser Autorität setzt er angefangen bei der Opposition jeden unter enormen Druck, der mit ihm und seiner Politik nicht einverstanden ist. Jeder, der gegen Erdoğan und sein Regime ist, wird wie ein potentieller Verbrecher behandelt.  

Erdoğans Rechtsverletzungen bleiben nicht allein auf die Grenzen der Türkei beschränkt. Auch seine Syrienpolitik, insbesondere die Operation und Besatzung von Efrîn, mit der er sich die Stimmen nationalistischer Kreise sichern wollte, stellen Beweise für die grenzüberschreitende Verletzungen des internationalen Rechts durch Erdoğan dar. Ich kann deshalb offen sagen, dass ich nicht hoffnungsvoll hinsichtlich der Zukunft der Türkei bin.

Erdoğan hat eine Diktatur errichtet

Wie würden sie das Regime Erdoğans definieren?

Mit seinem letzten Wahlsieg hat Erdoğan eine Diktatur in der Türkei errichtet, denn es gibt jetzt nur eine Instanz, die über alles entscheiden kann. So wie es in diktatorischen Systemen üblich ist, hat auch Erdoğan mit Angriffen auf die Opposition seine Machtposition etabliert. Auch wenn sie praktisch funktionslos sind, können wir vielleicht sagen, dass aufgrund des Vorhandenseins eines Parlaments und des Justizwesens noch nicht vom Übergang zu einer vollumfänglichen Diktatur zu sprechen ist. Alle Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass wir auf dem Weg dahin sind. Wenn aktuell jede Kontroll- und Entscheidungsfunktion im Land an seine Person gebunden ist, beweist das, dass wir es mit einem autokratischen System zu tun.

Europa hat Erdoğan stark gemacht

Sie verfolgen und kritisieren regelmäßig die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei. Welche Rolle kommt Europa dabei zu, dass Erdoğan sich heute an diesem Punkt befindet?

Europa trägt dabei definitiv eine große Verantwortung. Europa hat den politischen Kurs der  Regierung Erdoğans anfangs als modernen und gemäßigten Islam gewertet und damit eine große Rolle beim Aufstieg Erdoğans gespielt. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die einige europäische Staaten damals aufgenommen haben und bis heute weiterführen, hat zum Erstarken Erdoğans mitbeigetragen. Hinzu kommt, dass mit dem Flüchtlingsdeal große Geldsummen an die Türkei und entsprechende Handlungsfreiheit an Erdoğan übertragen worden sind, was diesen beim Aufbau seiner Diktatur erheblich unterstützt hat. Insbesondere Großbritannien und Deutschland tragen hier Verantwortung. Europa hat, die eigenen Interessen vor Augen, gegenüber dem wachsenden diktatorischen Kurs Erdoğans geschwiegen. Kann man überhaupt von schlechten Beziehungen eines Landes zu Europa sprechen, wenn rund 50 Prozent von dessen Exportleistungen eben an europäische Länder gehen?

Und was sollte Europa Ihrer Meinung nach eigentlich tun?

Europa müsste seinen Beziehungen zu Erdoğan Grenzen setzen. Die Türkei ist gegenwärtig in einer wirtschaftlichen Krise. Man könnte auf Wirtschaftssanktionen setzen, um einen Erdoğan, der die Menschenrechte in seinem Land außer Kraft gesetzt hat, zu schwächen. Der Europarat und das Europäische Parlament sollten gegenüber den Rechtsverstößen in der Türkei nicht schweigen. Gegen ein Land, das so schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begeht, muss eine klare Haltung an den Tag gelegt werden. Aktuell wollen weniger Menschen als zuvor in der Türkei Erdoğans Urlaub machen und das ist gut. Mit einem Stopp der Handelsbeziehungen und der Unterstützung der Opposition könnte das Erdoğan-Regime geschwächt werden.

Sie haben von der Schwächung des Erdoğan-Regimes gesprochen. Was könnte die Opposition in der Türkei tun, um diesem Ziel näherzukommen?

Ich glaube, den Kommunalwahlen könnten hier eine wichtige Bedeutung zukommen. Bei diesen Wahlen werden die Menschen nämlich nicht darüber entscheiden, wer das gesamte Land lenken soll. Sie werden darüber entscheiden, wie ihre Wohnorte und Städte geleitet werden sollen. Wenn wir uns die aktuelle Situation und die sozialen Probleme der Menschen vor Augen führen, kann es durchaus passieren, dass Erdoğan bei diesen Wahlen geschwächt wird. Vor allem in Großstädten wie Istanbul könnte die Opposition durch gemeinsame Kandidaten und einen gemeinsamen Wahlkampf zu einer Niederlage Erdoğans beitragen. Diese Wahlen werden zwar nicht zu einem Ende des Erdoğan-Regimes führen, aber sie können Hoffnungen für die Zukunft schaffen. 

Das Schweigen des Europarates und des CPT im Falle von Öcalan ist nicht zu verstehen

Sie haben auf die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei hingewiesen. Wie bewerten Sie die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, der für die Lösung der kurdischen Frage ein unverzichtbarer Akteur ist?

Lassen Sie mich zunächst festhalten, dass die Situation Öcalans von großer Bedeutung ist. In seinem Fall werden universelle Menschenrechte verletzt. Bei der Lösung der kurdischen Frage ist er ein wichtiger und großer Akteur. Im Ergebnis kommt ihm die Bedeutung zu, dass die kurdische Bevölkerung ihn zu einer Führungspersönlichkeit erklärt hat. Das Schweigen bei Rechtsverletzungen gegenüber einer solch bedeutungsvollen Person ist nicht verständlich und nicht zu akzeptieren. Öcalan müssen dieselben Rechte zugestanden werden wie allen anderen Gefangenen. Das ist ein universelles Recht. Besuche durch seine Angehörigen und seine Anwälte gehören zu seinen Grundrechten. Es kann keine Rechtfertigung dafür geben, dieses Recht zu unterbinden.

Für die Rechtsverletzungen im Falle Öcalan tragen auch der Europarat und das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) Verantwortung. Dass diese Institutionen zu der Situation schweigen, ist absolut nicht zu verstehen. Ich weiß allerdings, dass die Präsenz der AKP im Europarat ein Hindernis für die Auseinandersetzung mit der Situation Öcalans darstellt. Sie wollen nämlich nicht, dass über dieses Thema gesprochen wird.

Wir brauchen eine internationale Bewegung für Öcalan

Was kann man Ihrer Meinung nach für Öcalan tun?

Um auf die Situation Öcalans aufmerksam zu machen, braucht es auf internationaler Ebene eine Bewegung, die alle Gesellschaftsteile umfasst. Wir brauchen eine Bewegung, in der Abgeordnete aus dem Europaparlament, aus den nationalen Parlamenten, Politiker und Intellektuelle mitwirken. Gleichzeitig bedarf es einer Arbeit, die das Interesse der internationalen Medien auf sich ziehen kann. Den Medien kommt nämlich hierbei eine wichtige Rolle zu. Kurzgefasst müssen wir die Situation Öcalans auf die internationale Ebene tragen.

Die Haft Öcalans erreicht bald die Zeitdauer, die Mandela in Haft verbracht hat. Das ist keine einfache Zeit. Wenn man sich die Rolle Öcalans für die kurdische Bevölkerung und die gegen seine Person begangenen Rechtsverstöße vor Augen hält, kommt der Bedeutung einer solchen internationalen Bewegung eine große Rolle zu.