Im Europaparlament in Brüssel findet zum 16. Mal die internationale Konferenz „Die Europäische Union, die Türkei, der Mittlere Osten und die Kurden” statt. Die zweitägige Konferenz wird von der EU-Turkey Civic Commission (EUTCC), den Fraktionen GUE/NGL, The Greens | European Free Alliance, den Socialists & Democrats und dem Kurdischen Institut Brüssel organisiert.
Nach den Eröffnungsreden fand am Mittwoch die erste Sitzung zum Thema „Druck und Widerstand in der Türkei“ statt. Moderiert wurde die Sitzung von dem niederländischen Soziologen Joost Jongerden, als Referent*innen saßen Parlamentarier aus Europa und der Türkei auf dem Podium. Jongerden sagte einleitend, dass endlich Position gegen die Türkei bezogen werden muss. „Wir sind besorgt“-Erklärungen reichten nicht aus, vielmehr müsse Druck auf die EU ausgeübt werden, damit diese Druck auf die Türkei ausübe.
Benoît Biteau: Kampf um Wasser
Der französische Agrarwissenschaftler und Politiker Benoît Biteau von der Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament referierte über Konflikte, die über lebenswichtige Ressourcen wie Wasser ausgetragen werden, und ging dabei insbesondere auf das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris ein. „In den kurdischen Gebieten entspringen wichtige Wasserquellen“, sagte Biteau und wies darauf hin, dass die Verteilung des Wassers angesichts der Klimakatastrophe zu einem zentralen Thema wird.
Özlem Demirel: Waffenembargo gegen die Türkei
Die in Köln lebende Linkspolitikerin Özlem Demirel, die seit 2019 als Abgeordnete der Fraktion GUE/NGL im Europaparlament sitzt, sprach über die Repression gegen die politische Opposition und die Unterdrückung von Frauen und gesellschaftlichen Gruppen in der Türkei. Das Europäische Parlament habe die türkische Invasion in Nordsyrien zwar verurteilt, der Europarat setze jedoch kein Waffenembargo gegen die Türkei um. „Auf diesen Widerspruch müssen wir noch viel stärker aufmerksam machen“, sagte Demirel und wies auf die zunehmende Militarisierung der türkischen Außenpolitik hin. Diese sei ein Mittel Erdoğans, um die Krise im Inland zu verschleiern. In der Türkei gebe es keine Presse- und Meinungsfreiheit mehr, diesem Punkt müssten Journalistenverbände in Europa höhere Aufmerksamkeit widmen, sagte die in Meletî (Malatya) geborene Politikerin.
Gülistan Koçyiğit: Widerstand in der Türkei und Kurdistan
Nach einem Beitrag des Saadet-Abgeordneten Cihangir Islam zur Entwicklung des Nationalstaatsmodells in Europa und der Türkei sprach die HDP-Abgeordnete Gülistan Koçyiğit als letzte Referentin der ersten Sitzung über die Geschehnisse in der Türkei seit den letzten Lösungsverhandlungen zwischen dem türkischen und der PKK. Die HDP-Politikerin skizzierte den vom türkischen Staat umgesetzten Plan zur Vernichtung der Kurden und erinnerte an die zerstörten kurdischen Städte und die verheerenden Anschläge auf gesellschaftliche Zusammenkünfte in den letzten Jahren. „Gegen diesen gesamten Kriegszustand gibt es einen gesellschaftlichen Widerstand. In der Türkei und in Kurdistan leisten wir Widerstand. Das ist unser Kampf und zu diesem Kampf sind wir entschlossen“, so Gülistan Koçyiğit. Von der internationalen Gemeinschaft erwarte sie realistische Lösungsvorschläge.
Zweite Sitzung: EU-Türkei-Beziehungen
Die zweite Sitzung des ersten Konferenztages trug den Titel „EU-Türkei-Beziehungen: Beitrittsverhandlungen, Flüchtlingskrise und Kurden“ und wurde von dem Politikwissenschaftler Cengiz Aktar moderiert.
Der österreichische SPÖ-Politiker und Europaabgeordnete Andreas Schieder sprach über den Beitrittsprozess der Türkei zur EU und erklärte, hinsichtlich der türkischen Innen- und Außenpolitik sei für die Regierung kein Platz in Europa. Die EU müsse wegen der türkischen Invasion in Nordsyrien Sanktionen gegen die Türkei verhängen. Die holländische Europaparlamentarierin Tineke Strik von der Grünen-Fraktion referierte zum Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei.
Jan Fermon: Neue Perspektiven für Europa
Anschließend sprach der belgische Rechtsanwalt Jan Fermon über das am 28. Januar vom Kassationshof in Brüssel gefällte Gerichtsurteil, demnach die PKK nicht als terroristische Organisation zu bewerten ist. Fermon schilderte den juristischen Ablauf des Verfahrens und sagte: „Ein solches Urteil ist auf dem europäischen Kontinent zum ersten Mal gefällt worden.“ Der Prozess sei vor zehn Jahren auf türkischen Druck von der US-Botschaft in Belgien angestoßen worden. „Mit diesem Urteil eröffnet sich eine neue Perspektive. Der Konflikt muss gelöst werden“, sagte der Rechtsanwalt und unterstrich, dass die europäischen Ländern von einer Kriminalisierung absehen und eine neue Haltung zu der Frage einnehmen müssen.
Newroz Uysal: Isolation auf Imrali und Demokratisierung der Türkei
Als letzte Referentin des Tages erläuterte die Rechtsanwältin Newroz Uysal vom Istanbuler Rechtsbüro Asrin die Isolationshaftbedingungen ihres Mandanten Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und zog eine Parallele zwischen dem Isolationssystem und der zunehmenden Krise im Mittleren Osten. Am 15. Februar befindet sich Öcalan seit 21 Jahren in türkischer Gefangenschaft, sagte Newroz Uysal und schilderte die Punkte, die der kurdische Vordenker bei den letzten Anwaltstreffen nach dem Massenhungerstreik im vergangenen Jahr angesprochen hatte. Öcalan habe sich weiter für Frieden eingesetzt und Lösungsperspektiven geboten. „Es ist ein Irrtum, das Isolationssystem auf Imrali als Resultat der Gefängnispolitik in der Türkei zu betrachten“, so die Rechtsanwältin. Vielmehr sei die Isolation auf Imrali der Ausgangspunkt für die Politik der Isolation und Unterdrückung in der Türkei. „Es handelt sich nicht um eine einfache Menschenrechtsverletzung an einer Person. Es ist der Ort, der das deutlichste Bild der Türkei abzeichnet.“ Die internationale Gemeinschaft müsse den Zusammenhang zwischen der Aufhebung der Isolation, der Demokratisierung der Türkei und den Rechten der Kurden verstehen.
Sitzungsthemen am Donnerstag
Die Konferenz wird am zweiten Tag zwischen 9.30 und 17 Uhr fortgesetzt. Heute geht es um die Situation in Rojava, die neoosmanischen Bestrebungen der Türkei, die Rolle Europas im Mittleren Osten, die kurdischen Lösungsvorschläge und alternative Methoden. Parlamentarier, Wissenschaftler, Journalisten und Akademiker aus Ägypten, Ecuador und Europa werden zu diesen Themen referieren.