Diskussion um Kastration verbirgt Legitimation von Missbrauch

„Die im vergangen Jahr als illegal gestoppte Methode der ‚Kastration‘ ist zur populärsten Methode der Regierung gegen Kindesmissbrauch geworden!“

In der Türkei sind in den letzten Wochen mehrere Kinder getötet worden. Nachdem die beiden Mädchen Leyla und Eylül nacheinander verschwanden und kurz darauf ihre Leichen gefunden wurden, kam in der Öffentlichkeit erneut die Diskussion um „Todesstrafe“ oder „Kastration“ auf. Die Regierung hat angesichts dieser Stimmen verkündet, dass die Einbringung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs ihre „erste Handlung“ sein werde. Als vor den erzwungenen Neuwahlen im Februar das Thema Kindesmissbrauch auf die Tagesordnung kam, hatte die AKP bereits eilig einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Aber durch die Neuwahlen wurde der Entwurf hinfällig. Nun bereitet die rechtsextreme MHP gemeinsam mit der AKP einen neuen Entwurf vor. Der Antrag enthält nun das umstrittene Thema der „chemischen Kastration“ bzw. der „Kastration.“

Die Journalistin und Schriftstellerin Sevda Karaca erinnert daran, dass die „Richtlinien zum Umgang mit verurteilten Tätern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ am 26. Juli 2016 in Kraft getreten sind, diese aber aufgrund einer Klage des Verbands der Psychiater der Türkei gestoppt wurden. Wir haben mit Karaca über den Inhalt des Gesetzes und die daraus folgenden Konsequenzen gesprochen.

Vor den erzwungenen Neuwahlen hat die AKP einen „Gesetzentwurf zum Kindesmissbrauch“ eingebracht. Aber aufgrund der Tagesordnung blieb er für die neue Regierung liegen. Die jetzige Regierung hat also schon ein Gesetz vorliegen. Können sie uns kurz noch einmal beschreiben, um welche Regelungen es dabei ging?

Wenn Sie sich erinnern, am 12. Februar wurde ein dreijähriges Kind auf einer Hochzeit missbraucht und am 15. Februar erschütterte der eineinhalbjährige Missbrauch eines 4,5 Jahre alten Kindes in Antalya die Öffentlichkeit. Bedauerlicherweise wurde von der Regierung eine Politik verfolgt, welche die wütenden Reaktion auf den Straßen gegen eine Staatspolitik, mit der Kinder nicht geschützt werden, in eine Richtung der Forderungen nach „Kastration- und Hinrichtung“ lenkt.

Aufgrund der zunehmenden Proteste wurde auf Anordnung von Erdoğan eine Kommission gebildet. Eigentlich gab es schon eine parlamentarische Kommission, die zur Untersuchung der Missbrauchsfälle bei der Ansar-Stiftung ins Leben gerufen worden war und die Aufgabe hatte, politische Vorschläge einzureichen. Die neue Kommission wurde jedoch mit der Behauptung, dass diese „alle notwendigen Maßnahmen konkret in die Praxis umsetzen“ von den Ministerien gegründet und stand daher einer großen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit gegenüber.

Die Kommission brachte zwei Dinge im Rahmen ihrer Arbeit an Gesetzen in die Öffentlichkeit: „Wir bringen die Kastration und wir werden den Missbrauch von kleinen Kindern härter bestrafen.“ Aber sollte es bei der von den Ministerien ins Leben gerufenen Kommission nicht vor allem um Prävention gehen?

Der Gesetzentwurf sollte einen Tag vor der Entscheidung zu den erzwungenen Neuwahlen ins Parlament eingebracht werden, wurde jedoch mit der Wahlphase wieder zurückgestellt. Jetzt, wo die gesellschaftliche Stimmung aufgrund der Morde an Eylül und Leyla wieder hochkocht, wird, sowohl um die Proteste in passende Bahnen zu lenken als auch um sie niederzuschlagen, das Gesetz von Februar wieder aus der Schublade geholt.

Gut, also wo liegen eigentlich die Unterschiede bei dem Gesetzentwurf?

Es gibt im Entwurf einige sehr wichtige Änderungen. Aber wie es auch beim vorigen Entwurf war, gehen diese Änderungen in der Diskussion um Kastration und Hinrichtung verloren. Die Diskussion um Kastration und Hinrichtung, das Gerede von „Strafverschärfung“ verbirgt die Tatsache, dass in dem Gesetz eine Unterscheidung zwischen 12- und 15-jährigen Missbrauchsopfern gemacht wird und der Missbrauch von über 15-Jährigen regelrecht legitimiert wird. Zum Gesetz heißt es: „Wir werden den Missbrauch von kleinen Kindern härter bestrafen“, das stimmt. Der Missbrauch von Kindern unter zwölf Jahren soll mit Haftstrafen bis hin zu 40 Jahren erschwerter lebenslänglicher Haft bestraft werden. Wenn das Kind aber älter als 15 Jahre ist, dann hängt das Strafmaß von der „Benutzung einer Waffe oder Drohung“ und der Anzeige ab. Es sind dann zwei bis fünf Jahre Gefängnis vorgesehen. Warum bringen sie jetzt diese Unterscheidung zwischen 12- und 15-Jährigen?

Ein anderes ernstes Problem ist, dass Sexualität zwischen Gleichaltrigen tabuisiert und sogar unter schwere Strafe gestellt wird, während sexueller Missbrauch von Jugendlichen, die älter als 15 Jahre sind, als „Sexualität“ verharmlost wird.

Wie genau?

Stellen Sie sich vor, die im natürlichen Ablauf der Entwicklung des Menschen stattfindende Sexualität unter Gleichaltrigen wird als „unmoralisch“ stigmatisiert und mit Haftstrafen von bis zu 40 Jahren bestraft. Wenn aber ein 60-jähriger Mann einen 15-jährigen Jugendlichen missbraucht, dann wird dies als „sexuelle Beziehung mit Minderjährigen“ legitimiert. Eine solche Haltung steht hinter diesem Gesetz. In einem Text, den ich zu dem Thema geschrieben habe, habe ich von folgendem Beispiel berichtet: Wenn eine 15-jährige Jugendliche mit ihrer 15-jährigen Freundin eine sexuelle Beziehung eingeht, dann wird es mit der Strafandrohung von 16 bis 40 Jahren vor Gericht gestellt, während ein Vater, der seine 15-jährige Tochter vergewaltigt, mit einer Strafandrohung von 10 bis 15 Jahren vor Gericht kommt. Während ein Lehrer, der seine elfjährige Schülerin küsst, zu lebenslänglicher Haft verurteilt wird, wird der Lehrer, der seine 16-jährige Schülerin vergewaltigt, zu zwei bis fünf Jahren verurteilt und das auch nur im Falle einer Anzeige.

Warum?

Weil die Beziehung zwischen Gleichaltrigen „unmoralisch“ ist und der Missbrauch von Kindern durch Erwachsene als „sexuelle Beziehung“ gilt, darum! Heißt das, dass wenn 12- bis 15-jährige Kinder „eine sexuelle Beziehung aufbauen können“, dann auch „heiraten können“? Die Antwort lautet ja!

Ein anderes ernstes Problem des Gesetzes ist das Veröffentlichungsverbot unter dem Deckmantel des Kindesschutzes. In dem Gesetz ist ein Paragraf, der besagt: „Wenn es das Wohl des Kindes notwendig macht, dann wird vom Beginn der Ermittlung an ein Verbot oder eine Einschränkung der Verbreitung in der Presse, im Radio, im Fernsehen und im Internet entschieden und die bisherig erschienenen Inhalte dazu gelöscht oder geblockt.“ Im Rahmen des Gesetzes gibt es eine Unklarheit über dessen Dauer. Aber wir wissen, dass es dabei darum geht, diese Ereignisse vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Das führt dazu, dass sie sich öffentlich hinstellen und sagen können: „Schaut wie wir das Problem gelöst haben, wir haben die Kastration eingeführt, wir haben die Strafen verschärft“, dabei wird nichts mehr von solchen Verbrechen zu hören sein und die Zahl kann statistisch nicht verfolgt werden. Nach einem Missbrauchsfall kann dann nicht mehr durch die Presse beobachtet werden, was im Prozess passiert und was dabei herauskommt. Wobei geht es denn in diesem Gesetz, um das Kindeswohl?

Andererseits geht es in dem Gesetz um die chemische Kastration. Das wurde zuvor schon oft zur Sprache gebracht …

Ja, dieses Gesetz sieht auch die chemische Kastration vor. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Gesetz zur Kastration in der Türkei diskutiert wird. Am 26. Juli 2016 sind die „Richtlinien zum Umgang mit verurteilten Tätern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ in Kraft gesetzt worden. Dort ist von „medizinischer Behandlung“ die Rede. Aufgrund einer Klage des Verbands der Psychiater in der Türkei wurden diese Richtlinien im August 2017 gestoppt. Also, im vergangenen Jahr wurde die Widerrechtlichkeit festgestellt, aber jetzt ist „Kastration“ wieder das populärste Versprechen der Regierung gegen Kindesmissbrauch geworden!