Die Zeltstädte sind zu einem Schauplatz für die Regierung geworden

Während es in der Erdbebenregion noch immer an allem mangelt, ist die türkische Regierung damit beschäftigt, sich neue Profite zu erschließen. Rechtsanwältin Nuray Özdoğan, eine der Krisenkoordinatorinnen der HDP, bewertet die aktuelle Situation.

Nach der schweren Erdbebenserie mit Epizentrum in Gurgum (tr. Maraş) am 6. Februar haben die Menschen in der Region noch immer keine dauerhaften Lösungen gefunden. Während die Unterbringung das größte Problem darstellt, wird der Zugang zu sauberem Trinkwasser in den Erdbebengebieten von Tag zu Tag schwieriger. Hinzu kommen rechtliche Lücken, Menschen, die ihre Angehörigen noch immer nicht finden können, vermisste Kinder, Asbestgefahr und vieles mehr. Unterdessen hat die AKP/MHP-Regierung in der Türkei im Rahmen der unter dem Ausnahmezustand erlassenen Regelungen Wälder zum Baugebiet erklärt und mit dem Bau von Häusern begonnen. Die Warnungen von Expert:innen, dass sich die Verwerfungslinien verändern, werden dabei ignoriert.

Die Anwältin Nuray Özdoğan, eine der Krisenkoordinatorinnen der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hat sich im ANF-Interview über ihre Arbeit seit dem 6. Februar sowie über die dringenden Bedürfnisse und Probleme in der Erdbebenregion geäußert.

Es ist mehr als ein Monat seit dem Erdbeben vergangen. Welche Arbeit haben Sie als HDP-Krisenkoordinatorin trotz der aufgetretenen Hindernisse geleistet?

Der 6. Februar war ein Meilenstein für uns alle. Das Erdbeben, das wir erlebt haben, ist eine große Katastrophe. Aber die schweren humanitären Probleme und die Zerstörung können nicht als Katastrophe bezeichnet werden. Es handelt sich um ein Massaker, für das die derzeitigen Regierungsmechanismen, der Staat und die Regierung verantwortlich sind. Die HDP hat von den ersten Stunden an alle Mechanismen der Partei mobilisiert, um die Folgen der Katastrophe zu bekämpfen. Die Komitees, die wir für die Wahlen gebildet haben, wurden in Erdbebenkoordinationen umgewandelt. Es wurde eine Mobilisierung mit allen Abgeordneten, unserer Jugend- und Frauenräten, den freiwilligen Helferinnen und Helfern und allen unseren Mitgliedern ausgerufen. In den ersten Tagen, in denen keine der staatlichen Institutionen tätig wurde, bestand unsere Priorität darin, das Gebiet zu erreichen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Leben zu retten.

Wir haben uns über unsere zentralen Krisenkoordinationszentren in Ankara und Diyarbakır [ku. Amed], den Koordinationsbüros in den Provinzen und Bezirken und mehr als 3.000 Freiwilligen organisiert. Innerhalb des zentralen Krisenkoordinationszentrums wurden vier separate Kommissionen eingerichtet: Technik, Transport und Unterkunft, AFAD und Kommunikation mit den Provinzen. Bis heute wurden etwa 60.000 Anfragen an das Krisenkoordinationszentrum gestellt und 300.000 separate Mitteilungen gemacht. Es wurde Kontakt zu 12.322 Erdbebenopfern aufgenommen, die behandelt und aus den Krankenhäusern entlassen wurden. Bisher wurden 617 Fahrzeuge, darunter Lastkraftwagen und Kleintransporter, in die erdbebengeschädigten Provinzen, Bezirke und Dörfer geschickt. In der Anfangsphase war es weniger ein Hindernis als vielmehr das Versäumnis der zuständigen staatlichen Institutionen, die notwendige Koordinierung vorzunehmen, die es uns ermöglicht hätte, die Menschen zu erreichen, die unter den Trümmern oder im Freien unter strengen Winterbedingungen ums Überleben kämpften.

Worum ging es dabei?

Die Straßen wurden nicht für den humanitären Bedarf und die Entsendung von Baumaschinen freigeräumt und es wurden keine Luft-, Land- und teilweise auch Seetransportmittel für das Katastrophengebiet eingesetzt. Dadurch wurden die Verluste noch vergrößert. Obwohl die Menschen in der ersten Phase sogar auf dem Luft- und Seeweg mit dringend benötigter Hilfe hätten versorgt werden können, wurde dies nicht getan. Dieser Staat, der Mitglied der NATO ist und seit Jahrzehnten über alle möglichen Werkzeuge und Ausrüstungen mit hohen Budgets für die Fortsetzung seiner Kriegspolitik verfügt, und die amtierende Regierung haben ihre Bevölkerung unter den Trümmern im Stich gelassen.

Die derzeitige Regierung fasst nichts an, was sie nicht in Profit verwandeln kann. Sie agiert wie ein Unternehmen für kommerzielle Zwecke. Viele Menschen haben ihr Leben verloren, weil sie nicht gerettet wurden. Dieser Umstand kann weder verziehen noch vergessen werden. Es ist eine Tatsache, dass die Mitglieder des Bündnisses für Freiheit und Arbeit, in dem wir auch vertreten sind, sowie die demokratische Öffentlichkeit, Nichtregierungsorganisationen, die alevitische Gemeinschaft und Vereine trotz der seit Jahren andauernden Unterdrückungs- und Einschüchterungspolitik im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfsaktionen durchgeführt haben. Diese Solidarität war groß und sinnvoll. Unserer Partei sind die öffentlichen Mittel gestrichen worden, aber wir haben uns gemeinsam mit unseren Mitgliedern, Freunden und Freiwilligen der Politik der Unterdrückung und Behinderung widersetzt und große Anstrengungen unternommen, um unterschiedslos jedes Dorf und jeden Bezirk zu erreichen. Erst durch die Unruhe, die bei der Regierung aufgrund der Selbstorganisation der Bevölkerung entstanden ist, wurden Kräfte mobilisiert, die vorher nicht tätig geworden sind.

Es wurde versucht, Angst und Schrecken zu verbreiten, indem unsere Hilfstransporter blockiert und unsere Hilfszentren beschlagnahmt und unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Es wurden Folter und Misshandlungen praktiziert. Diese Praktiken haben noch immer nicht aufgehört. Stellen Sie sich vor, alle Koordinierungsstellen, uns eingeschlossen, haben einen Teil ihrer Zeit und Energie darauf verwenden müssen, wie sie Hilfsgüter und Rettungsfahrzeuge gegen die unrechtmäßige und unfaire Intervention der Katastrophenschutzbehörde AFAD oder der Gouverneure in das Gebiet bringen können, und die gleiche Situation besteht immer noch. Denn diejenigen, die aufgrund mangelnder Verdienste und Präferenzen selbst keine Hilfe leisteten, verfolgten eine Haltung, die Hilfsmaßnahmen verhinderte. Leider haben wir bei diesem Erdbeben noch eindeutiger feststellen müssen, wie wichtig es ist, die lokalen Regierungen und die Selbstverwaltung der in dieser Region lebenden Menschen zu stärken und ihnen eigene Entscheidungsprozesse zu ermöglichen. Die Hilfe, die die wenigen nach dem Treuhandputsch verbliebenen Gemeinden und andere oppositionelle Gemeinden im Rahmen ihrer Möglichkeiten geleistet haben, war für die Erdbebenopfer von entscheidender Bedeutung.

Was sind nach Ihrer Einschätzung die dringendsten Bedürfnisse im Erdbebengebiet?

Zunächst einmal müssen in der Region immer noch Such- und Rettungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die Menschen mussten ihre Leichen unter den Trümmern zurücklassen. Alle haben das Recht, Zugang zu den Leichen ihrer Angehörigen zu erhalten und sie zu bestatten. Im Rahmen der Räumungsarbeiten werden die Leichen von Menschen zusammen mit den Trümmern als Schutt behandelt. Diese Situation ist unmenschlich. Das Asbestproblem und die Umweltzerstörung werden völlig ignoriert. Das Ministerium für Umwelt und Urbanisierung sollte bei allen Abrissarbeiten die Asbestgefahr prüfen und entsprechende Vorkehrungen treffen, aber wir sehen, dass nichts davon getan wird. Mancherorts wird der Schutt auf landwirtschaftliche Flächen gekippt.

Wenn die landwirtschaftliche Produktion in der Region zum Erliegen kommt, wird es zu einem Ernährungsproblem kommen. Den Menschen droht eine Hungersnot. Zudem wird keine wirkliche Schadensbewertung durchgeführt. Es ist ein Rätsel, wie die Menschen ihre nicht identifizierten Schäden geltend machen wollen. Trinkwasser, Unterkünfte und Ernährung sind nach wie vor ein großes Problem. Von keiner öffentlichen Einrichtung erhält man genaue Informationen, und es werden keine korrekten Erklärungen gegeben. Das Problem der Wasserversorgung muss dringend gelöst werden. Es besteht ein dringender und unerlässlicher Bedarf an witterungsgerechten Containern. Bei kaltem und regnerischem Wetter ist das Leben in unzureichenden Zelten sehr schwierig, und wenn es wärmer wird, nimmt die Gefahr von Epidemien zu. Die Lager, die an einigen wenigen Orten mit den vom Kizilay [Roten Halbmond] verkauften Zelten errichtet wurden, können die wachsenden und zunehmenden Probleme nicht lösen. Die Zeltstädte sind zu einem Schauplatz für die Regierung geworden. Darüber leiden vor allem Frauen und Kinder unter den Folgen des Erdbebens.

Die Kontinuität des Bedarfs ist offensichtlich. Was für eine Formel schlagen Sie als HDP für eine dauerhafte Solidarität und Lösung vor?

Ohne den Kommunalverwaltungen in der Region die Initiative zu überlassen, scheint es schwierig, die Probleme im Zusammenhang mit der Infrastruktur zu lösen. Die Präferenz und die Politik der Zentralregierung sind bereits klar. Diese Katastrophe hat uns mit ihren schmerzhaften Folgen erneut vor Augen geführt, wie wichtig die gesellschaftliche Selbstorganisation ist. Die HDP wird ihre Solidaritäts- und Unterstützungsaktivitäten fortsetzen, bis alle Wunden des Erdbebens geheilt sind. Wir richten unsere Solidaritätsaktivitäten nur nach dem Bedarf aus. Gemeinsam mit anderen juristischen Institutionen haben wir auch mit der Rechtsaufklärung begonnen: Seit etwa zwei Wochen fahren wir von Ort zu Ort und besuchen die Erdbebenopfer, um Rechtsauskünfte zu erteilen.

Wir werden weiterhin gemeinsam mit den Solidaritätsnetzen aller Organisationen, Strukturen, Verbände und Bürgerinitiativen in der Region handeln. Wir werden unser Bestes tun, um den Wiederaufbau durch Prozesse zu ermöglichen, an denen alle Menschen in der Region teilnehmen können. Es ist wichtig, die Solidarität nicht nur in der Region, sondern auch in anderen Provinzen aufrechtzuerhalten. In den Provinzen, die Erdbebenopfer aufgenommen haben, wird eine gesonderte Arbeit mit dem Schwerpunkt auf Unterbringung und Ansiedlung durchgeführt. Die Frage der vermissten Kinder ist ebenfalls eines unserer wichtigen Anliegen. Wir dürfen keines unserer Kinder den Heimen von religiösen Orden ausliefern. Dieser Prozess muss durch die Partnerschaft und den Kampf der gesamten demokratischen Öffentlichkeit aufrechterhalten werden.

Als HDP haben wir Strafanzeige gegen alle Unrechtmäßigkeiten gestellt, die seit dem 6. Februar stattgefunden haben: gegen alle Institutionen und Personen, die an den Bau-, Genehmigungs- und gesetzlichen Regulierungsverfahren für erdbebensichere Gebäude beteiligt waren. Gegen Beamte und Behörden, die keine Such- und Rettungsaktionen durchgeführt haben, gegen die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie (BTK), die die Kommunikation verhindert hat, gegen diejenigen, die Hilfsgüter beschlagnahmt und Menschen gefoltert und misshandelt haben. Wir werden diejenigen, die dieses große Massaker verursacht haben, juristisch und politisch zur Verantwortung ziehen.

Sie haben auch die Trümmerbeseitigung angesprochen. Wie werden die Aufräumarbeiten rechtlich durchgeführt, insbesondere im Hinblick auf die Beweisführung, und was sollte eigentlich getan werden?

Bevor die Räumungsarbeiten beginnen, müssen die Staatsanwaltschaften eine Beweis- und Sorgfaltsprüfung am Abrissort durchführen. Das hat strafrechtliche und rechtliche Konsequenzen. Diese Prüfung ist wichtig für die Feststellung der strafrechtlichen und rechtlichen Verantwortlichkeiten. Wie die staatlichen Einrichtungen werden die Justizbehörden jedoch nicht ohne die Genehmigung der Zentralregierung tätig. Normalerweise sollten alle Staatsanwaltschaften von sich aus tätig werden. Wenn es Hindernisse in den Ermittlungsverfahren gibt, sollten sie strafrechtliche Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die diese Hindernisse errichtet haben oder die die Bedingungen der Ermittlungsverfahren nicht erfüllen. Das ist ihre Pflicht. Da diese Verfahren nicht vom Staat durchgeführt werden, versuchen die Erdbebenopfer, die Beweisführung mit eigenen Mitteln und mit Hilfe von Berufsverbänden wie der Anwaltskammer und dem Verband der Architekten- und Ingenieurkammern (TMMOB) zu vollziehen. Die Obstruktionspolitik derjenigen, die diese Verwüstung verursacht haben und dafür verantwortlich sind, macht es unmöglich, diese Feststellungen offiziell durchzuführen. Diese Haltung entbindet den Staat jedoch nicht von seiner Verantwortung.