Im sogenannten Kobanê-Verfahren in Ankara hat die inhaftierte kurdische Politikerin Ayla Akat Ata als eine von 108 Angeklagten in einer umfassenden Erklärung den Schauprozess und das aggressive Vorgehen der türkischen Staatsführung gegen die Errungenschaften der Frauenbewegung angeprangert. Die ehemalige HDP-Abgeordnete und Aktivistin der Bewegung Freier Frauen (Tevgera Jinên Azad) erläuterte an zwei Prozesstagen die politischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren und ging dabei auf die Proteste gegen den IS-Angriff auf Kobanê im Oktober 2014 ein, die Gegenstand des Verfahrens sind. „Früher oder später werden die wahren Täter sich vor der Justiz verantworten müssen und in diesem Prozess werde ich eine der Nebenklägerinnen sein. Dieses Verfahren ist nur als Vorbereitung auf das Verbot der HDP eingeleitet worden“, sagte die im Oktober 2020 verhaftete Politikerin vor Gericht.
Ayla Akat Ata führte zu ihrer Verteidigung an, dass ihre Verhaftung unter anderem mit einer Äußerung auf einer Veranstaltung in Amed (tr. Diyarbakir) begründet wurde, an der sie mit dem damaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş teilgenommen hatte: „Die PKK ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis.“ Der AKP-Politiker und ehemalige Tourismusminister Numan Kurtulmuş hingegen habe ähnliches über die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gesagt, was für den Staat offenbar kein Problem darstelle: „Der IS ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis. Die dortigen Völker haben die Freiheit politischer Partizipation.“ Angesichts dieses Vergleichs stellte Ata vor Gericht die rhetorische Frage: „Sind wir gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger oder nicht?“
Weiter erklärte Ayla Akat Ata: „Uns wird als Straftat zur Last gelegt, Frieden zu fordern, für eine politische Lösung auf Imrali zu verweisen und gesellschaftliche Werte wie Kondolenzbesuche am Leben zu halten. Wir kennen unsere gesetzlichen Grenzen, aber gegen uns werden ungeschriebene Gesetze angewandt. Wir sind einem doppelten Standard ausgesetzt. Wir wollen eine Lösung der kurdischen Frage. Gleichermaßen ist uns bewusst, dass Frauen nicht frei sein werden, solange die Geschlechterfrage nicht gelöst ist. Wenn ich frei wäre, würde ich sofort anstelle der geschlossenen Fraueneinrichtungen eine neue eröffnen. Es sind 43 Fraueninstitutionen geschlossen worden, das ist nicht wenig. Wir werden neue Einrichtungen aufbauen.“ Ata bezog sich damit auf die Frauenarbeit in den kurdischen Kommunen, in denen vom türkischen Innenministerium staatliche Statthalter anstelle der gewählten Politiker:innen eingesetzt worden sind. Sie selbst ist Mitbegründerin des Frauenvereins Rosa in Amed, der im ständigen Fokus staatlicher Repression steht.
Der Kobanê Prozess wird am Montag fortgesetzt.
Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität
Im Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft Ankara bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Dutzende Tote, hunderte Verletzte
Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.