„Die Vernachlässigung ist schlimmer als das Erdbeben“
In Hatay sind immer noch Hunderte von Erdbebenopfern verschwunden. Angehörige werfen der Regierung vor, die Region gezielt zu vernachlässigen, weil sie alawitisch geprägt ist.
In Hatay sind immer noch Hunderte von Erdbebenopfern verschwunden. Angehörige werfen der Regierung vor, die Region gezielt zu vernachlässigen, weil sie alawitisch geprägt ist.
Seit einem Jahr sucht Ilham Balıkçı ihre 21-jährige Tochter. Sie wurde beim Einsturz des Krankenhauses in Hatay durch das Erdbeben am 6. Februar 2023 verschüttet und ist bis heute verschwunden. Ihren Eltern geht es so wie Hunderten anderen Angehörigen, deren Kinder, Väter, Mütter, Brüder oder Schwestern immer noch unter den Trümmern liegen.
Die 21-jährige Handan Balıkçı Karaca studierte türkische Sprache und Literatur an der Universität Ankara und war in den Semesterferien zu Besuch bei ihrer Familie in Hatay. Aufgrund von Beschwerden wurde sie im Krankenhaus behandelt, als die Erde bebte. Zusammen mit 72 anderen Personen wurde das einstürzende Gebäude zu ihrem Grab. Für die Mutter ist, solange ihre Leiche nicht gefunden wird, kein Abschluss mit dem Tod möglich. Sie kämpft seit einem Jahr Tag und Nacht für die Identifizierung ihrer Tochter. „Sie kam in den Semesterferien zu uns und wurde hier krank. Wir brachten sie ins Ausbildungsklinikum von Hatay und auf Wunsch der Ärzte wurde sie dort ab dem 24. Januar stationär im 5. Stock behandelt“, berichtet Ilham Balıkçı. Ihre Tochter sah sie zuletzt am 2. Februar: „Sie konnte nicht viel reden. Sie bekam ständig Spritzen, ich konnte sie nur für zehn Minuten sehen. Das letzte Mal, das ich mit ihr sprach, war am Telefon vor dem Erdbeben. Sie fragte, wann wir sie besuchen kämen. Da wir in Samandağ wohnten, konnten wir nicht jeden Tag zu ihr fahren, also sagte ich ihr, dass wir kommen würden. Aber leider wurde das Krankenhaus durch das Erdbeben zerstört.“
Hilfe kam viel zu spät
Nur einen Tag nach dem Erbeben konnte die Mutter zum Krankenhaus trampen. Sie berichtet, dass die Such- und Rettungsarbeiten viel zu spät begannen. So sei in den ersten drei Tagen gar keine Hilfe angekommen. „Erst am vierten Tag nach dem Beben wurden Such- und Rettungsarbeiten in den Trümmern des Krankenhauses aufgenommen. Wir haben dort im Regen gewartet. Wir sahen, wie zwei oder drei Menschen überlebt hatten, aber über 70 Menschen sind gestorben. Es wurden Sauerstoffflaschen angefordert, aber es gab keine und auch keine anderen medizinischen Hilfsmittel. Auch der Generator wurde erst sehr spät geliefert. Es war bereits eine Woche seit dem Erdbeben vergangen, als das Material eintraf. Wie lange können Menschen unter den Trümmern überleben? Die Vernachlässigung war schlimmer als das Erdbeben. Viele nicht identifizierte Leichen wurden aus den Trümmern gezogen. Ihre Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Wir mussten uns die Leichen einzeln ansehen, aber wir konnten nicht erkennen, ob es sich um unsere Tochter handelte oder nicht. Dann wurden die Leichen in ein Massengrab gelegt. Meine Tochter war im 5. Stock, dort gab es einige Überlebende.“
„Es geht alles sehr langsam“
Obwohl nun bereits ein Jahr vergangen ist, ist kaum etwas unternommen worden, die Vermissten zu finden. Mindestens 200 Tote gäbe es, von denen DNA-Proben entnommen wurden, bevor sie wieder begraben wurden. Balıkçı weist darauf hin, dass auch sie DNA-Proben beim Institut für Rechtsmedizin abgegeben habe und in ständigem Kontakt mit dem Gesundheitsministerium und den Experten für Rechtsmedizin stünde. Man hätte ihr zugesichert, kontaktiert zu werden, sobald es eine Übereinstimmung gibt. Doch alles gehe nur langsam, obwohl seit dem Erdbeben bereits ein Jahr vergangen ist. „Wir werden ständig hingehalten. Sie sagen, dass sie uns informieren werden, aber sie sagen sonst nichts. Zuletzt bin ich noch einmal zur Staatsanwaltschaft Samandağ gegangen, um noch einmal einen zusätzlichen Antrag an die Generalstaatsanwaltschaft zu stellen.“
„Gibt es überhaupt noch einen Staat?“
Ilham Balıkçı ist seit dem Tod ihrer Tochter, der ältesten von dreien, tief traumatisiert. Über das letzte Telefongespräch mit ihrer Tochter sagt sie: „Sie rief mich an und fragte, warum wir nicht kämen. Es regnete an diesem Tag, also konnten wir nicht kommen. Ich sagte ihr, dass wir am Montag zu ihr kommen würden und fragte, ob sie etwas benötige. Sie bat mich, ihr Wäsche und Adana Kebab mitzubringen. Aber das war nicht mehr möglich.“
„Es war die Hölle“
In der Nacht folgte dann ein Erdstoß auf den anderen. Ilham Balıkçı beschreibt die Situation: „Es war die Hölle. Alles hat gebebt. Ich dachte sofort an meine Tochter. Ich sagte meinem Mann, er solle nachsehen gehen. Er sagte, sie würden uns anrufen, wenn etwas passiert wäre. Aber niemand hat angerufen oder gefragt. Die Verbindung war bereits unterbrochen. Wir konnten niemanden anrufen, und wir hatten kein Auto. Auch die Straßen waren stark beschädigt. Also gingen wir von Samandağ aus zu Fuß und fuhren per Anhalter zum Krankenhaus. Als wir die Leute auf der Straße fragten, wie wir zum staatlichen Krankenhaus kommen könnten, war die Antwort: „Es gibt keinen Staat mehr“. Ich wurde ohnmächtig. Als ich die Augen öffnete, standen wir vor dem Krankenhaus. Ich wurde erneut ohnmächtig, als ich sah, dass das Krankenhaus zerstört war.“
„Der Schmerz um das eigene Kind verbrennt einen von innen“
Balıkçı betont, wie schwierig es sei, nicht zum Körper seines Kindes vordringen zu können und klagt: „Der Schmerz über den Tod eines Kindes verbrennt einen von innen. Möge Allah niemandem diesen Schmerz zufügen. Ich weine jeden Tag vor dem Foto meiner Tochter, ich lese jeden Tag Gebete. Werde ich mein ganzes Leben mit Fotos verbringen? Ich wurde gerade operiert, die Ärzte sagten, ich würde nicht mehr lange leben. Ich will, dass mein Kind gefunden wird, bevor ich sterbe, wir wollen sie tot oder lebendig wiedersehen. Wenn mein Kind tot ist, sollten sie mir ihre Leiche geben. Warum geben sie sie mir nicht? Sie können sie nicht verstecken. Ich will, dass meine Tochter ein Grab hat, ich will nichts anderes.“
„Wir wurden vergessen, weil wir Aleviten sind“
Anfang Februar war Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in Hatay. In seiner Rede warnte er die Menschen, ihre Stimme bei der Kommunalwahl Ende März erneut der Opposition zu geben. Deswegen habe es keine Hilfen in der Provinz gegeben. „Wenn die Zentralregierung und die Regionalregierung nicht Hand in Hand arbeiten, wird die Stadt dann Hilfen bekommen? Hat Hatay Hilfen bekommen?“, fragte Erdogan. Ilham Balıkçı ist fassungslos: „Warum tut er das? Soll er sich doch in unsere Lage versetzen. Vor einem Jahr habe ich meine Tochter verloren und sie wurde immer noch nicht gefunden. Kann jemand unsere Stimme hören, kann jemand unseren Schmerz verstehen? Nein! Ich will mein Kind. Ich habe mein Kind mit meinen Tränen großgezogen, ich war sowohl Mutter als auch Vater. Ich habe jahrelang in den Gärten gearbeitet. Man kann Hatay nicht bedrohen. Ja, Hatay ist einmal gefallen, aber es weiß, wie man wieder aufsteht. Wir sind auch Bürger dieses Landes, aber wir wurden vergessen, weil wir Alawiten sind. Aber deshalb darft man sich Hatay gegenüber nicht feindlich verhalten und Hilfe verweigern. Ich habe nur noch mein Leben, sollen sie es mir auch nehmen. Ich bin bereits tot. Meine Tochter ist einmal gestorben, aber ich sterbe jeden Tag. Wir gehen jeden Tag auf den Friedhof, aber wir können sie nicht finden. Sie müssen doch mein Kind finden.“ In Hatay sind immer noch Hunderte von Erdbebenopfern verschwunden. Angehörige werfen der Regierung vor, die Region gezielt zu vernachlässigen, weil sie alawitisch geprägt ist.