„Die Probleme in den Gefängnissen gehen uns alle an!“

Berivan Korkut von der Organisation „Zivilgesellschaft im Strafvollzugssystem" beschreibt die Missstände in türkischen Gefängnissen und fordert mehr öffentliche Aufmerksamkeit für diese.

Die Gesamtkapazität der insgesamt 449 Gefängnisse in der Türkei ist auf 211.274 Insassen ausgelegt. Derzeit befinden sich allerdings 246.426 Menschen in türkischen Haftanstalten. Das ist eine Überbelegung von 35.152 Inhaftierten. „Allein das führt zu einer ganzen Reihe von Problemen, die nicht bloß die Inhaftierten und ihre Angehörigen etwas angehen“, erklärt Berivan Korkut von der Organisation CISST (Zivilgesellschaft im Strafvollzugssystem).

Korkut beschreibt die systematischen Probleme und Fälle von schlechter Behandlung in türkischen Haftanstalten mit folgenden Worten: „Wir haben in den letzten zehn Jahren einen stetigen Anstieg der Inhaftierten zu verzeichnen. Da die Gefängniskapazitäten mittlerweile nicht mehr ausreichen, führt das zu schwerwiegenden Problemen. So ist der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung durch die Überbelegung deutlich erschwert. Wir haben auch zu wenig Betten in den Zellen, weswegen sich Gefangene teilweise mit dem Schlaf abwechseln müssen. In manchen Gefängnissen schlafen die Gefangenen auf Matratzen auf dem Boden, die aus Platzmangel bis vor die Toiletten ausgelegt werden müssen. Natürlich wird durch die Überbelegung auch die Teilnahme an sozialen Aktivitäten in den Haftanstalten erschwert.“

Kontaktsperren und Gefängnisverlegungen

Korkut erklärt im Namen ihrer Organisation, dass die Rechtswidrigkeiten durch das Personal in den Haftanstalten während des Ausnahmezustands zugenommen haben, aber auch nach dessen Aufhebung weiter anhalten. „Es werden beispielsweise regelmäßig Gefangene in andere Gefängnisse verlegt. Jede Verlegung bedeutet, dass der Gefangene beispielsweise einen neuen Teekocher oder einen neuen Fernseher beschaffen muss. Auch werden Personen in Haftanstalten weit entfernt von ihren Heimatorten verlegt, was bedeutet, dass sie keinen oder kaum Besuch von ihren Angehörigen erhalten können. Somit werden nicht nur die Gefangenen, sondern auch ihre Angehörigen bestraft. Auch gibt es Gefangene, die wegen Disziplinarstrafen seit dreieinhalb Jahren keine Besuche von Angehörigen empfangen dürfen. Wenn dann noch die Anwälte ihre Mandanten nicht besuchen können oder dürfen, dann sind diese Menschen vollständig von der Außenwelt abgeschnitten“, so Korkut.

Zugang zu Büchern und Medien wird beschnitten

Die CISST-Sprecherin erklärt, dass es auch ernsthafte Probleme beim Zugang zu Büchern in den Haftanstalten gibt. So werden oftmals Bücher, die von den Angehörigen an die Gefangenen gesendet werden, nicht weitergegeben. Stattdessen sollen die Gefangenen Bücher bei Mitarbeitern der Gefängniskantine erwerben. Hier sei allerdings die Auswahl äußerst beschränkt und die Bücher werden zum Teil überteuert verkauft. Auch dürfe der Gefangene in seiner Zelle nicht mehr als fünf bis sieben Bücher bewahren.

„Ähnliche Schwierigkeiten gibt es auch bei den Radio- und Fernsehsendern“, erklärt Korkut: „Es ist lediglich ein Radiosender gestattet. Wenn Gefangene der türkischen Sprache nicht mächtig sind, wird dadurch ihr Zugang zu Nachrichten gekappt. Auch bei den Fernsehsendern gibt es diese Einschränkungen. Briefe, die nicht per Einschreiben gesendet werden, werden oft einbehalten. Selbst die Tagebücher der Inhaftierten werden bei Zellendurchsuchungen konfisziert. Die Anträge der Gefangenen an die Gefängnisleitung werden nicht bearbeitet. Das sind die Probleme in den Haftanstalten, von denen wir regelmäßig in Kenntnis gesetzt werden. Früher konnten wir in solchen Fällen Beschwerde bei einem Haftrichter einreichen. Doch in letzter Zeit fallen die Richtersprüche in diesen Beschwerdefällen fast immer im Sinne der Gefängnisleitung aus.“

Korkut fordert, dass die Situation in den türkischen Gefängnissen mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt werden muss. Die systematischen Probleme werden demnach zu wenig in Medien und Öffentlichkeit thematisiert. „Oft wird gesagt, dass so etwas in Gefängnissen schon einmal vorkommen kann. Wenn man bedenkt, wie begrenzt die Kontaktmöglichkeiten der Gefangenen zur Außenwelt sind, ist eine solche Gleichgültigkeit fatal. Das sind nicht nur die Probleme der Gefangenen und ihrer Angehörigen. Diese Probleme gehen uns alle an. Die Menschen in den Gefängnissen sind auch Teil unserer Gesellschaft. Nur wenn wir gemeinsam agieren, können wir Lösungen für diese Probleme erzwingen“, so der Appell von Korkut.