Sie trug ein braunes Tuch um den Hals. Ihre Haare waren wie immer zusammengebunden. Nach drei intensiven und anstrengenden Tagen suchte sie vergeblich ihren Schlüssel in ihrer Handtasche. Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit lächelte sie.
Das war drei Monate und 24 Tage vor dem Mord an den drei kurdischen Revolutionärinnen. Auf dem Humanité-Festival der gleichnamigen Zeitung in Paris im September 2012 hatten auch die Kurd*innen ein eigenes Zelt. Über dem Zelt wehte eine PKK-Fahne. Das politische Festival findet seit 1930 als Solidaritätsveranstaltung statt.
Rojbîn (Fidan Doğan) konnte den Magnetschlüssel in ihrer Tasche nicht finden. Es war der Schlüssel des Informationszentrums Kurdistan. War er gestohlen worden, hatte sie ihn fallengelassen oder irgendwo vergessen? An jenem Tag trug sie ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für die politischen Gefangenen“. Innerhalb vor drei Tagen waren 35.000 Unterschriften gesammelt worden, Tausende Menschen wurden über den kurdischen Kampf aufgeklärt.
Es war nicht nur der Schlüssel, den sie in ihrer Tasche suchte und nicht fand. Auch ihr zweites Mobiltelefon war weg.
Die Versuche vor den Morden
Die Kurden waren auf dem Festival nicht allein, ihre Aktivitäten wurden beobachtet und jemand stand im Hinterhalt bereit. Mehrere kurdische Aktivist*innen wiesen auf zwei verdächtige Personen im gegenüberliegenden Zelt. Sie gingen davon aus, dass es sich um Angehörige des französischen Geheimdienstes handelte. Ihre Anwesenheit war keine Überraschung.
Bei der Person im Hinterhalt handelte es sich um „die Quelle“. In offiziellen türkischen Papieren wurde er „Quelle“ oder „Legionär“ genannt: Ömer Güney. Er traf seit Monaten Vorbereitungen. Dafür war er plötzlich aus Deutschland nach Paris gezogen und hatte sich Zugang zu kurdischen politischen Aktivitäten verschafft.
Auf dem Humanité-Festival wollte er zwei kurdische Aktivist*innen töten. Während des Festivals in La Courveuve übernachtete immer jemand im Zelt. Während ein kurdischer Aktivist im Zelt schlief, wollte „die Quelle“ ihren Plan umsetzen, gab jedoch aus unbekannten Gründen auf. Am nächsten Tag, als es gerade dunkel wurde, wurde er erneut aktiv. Er begleitete ein Mitglied der Jugendbewegung nach Hause, das Auto fuhr er selbst. Das Mitglied der Jugendbewegung schlief im Auto ein und Güney änderte plötzlich die Fahrtrichtung. Als er vor einer Absperrung an einem Wald anhielt, wachte das Mitglied der Jugendbewegung auf und reagierte wütend. Güney drehte daraufhin um.
Der erwartete Befehl
Nach diesen Versuchen traf der Befehl ein, auf den „die Quelle“ gewartet hatte. Zwei Wochen nach dem Festival reiste er Anfang Oktober in die Türkei. Mit zwei Personen diskutierte er an einem Tisch über seine Mordpläne. Seine Gesprächspartner waren Angehörige des türkischen Geheimdienstes MIT. Die Quelle zieht manchmal die Nase hoch, gelegentlich sind klingelnde Telefone, Fußschritte und Stühlerücken zu hören. Die Quelle zählt Namen auf und sagt: „Diese drei Personen müssen verschwinden.“ Er fügt hinzu: „Ich beobachte sie, seit ich in Paris bin.“ Er spricht von drei in Paris aktiven Kurd*innen.
Die Quelle beharrt darauf, dass die Umgebung des kurdischen Kulturzentrums in Paris ein idealer Ort für einen Mord ist. Der Geheimdienstmitarbeiter fragt, ob er Fluchtwege ausgemacht hat. Die Quelle spricht selbstsicher über den Plan. Er will eine der Zielpersonen auf dem Nachhauseweg verschwinden lassen, einer weiteren Zielperson soll auf dem Parkplatz beim kurdischen Verein ein Hinterhalt gelegt werden.
Bei der detaillierten Anschlagsplanung am 1. bis 3. Oktober in der Türkei fordert er auch Geld für eine „saubere“ Waffe. Vorher war er bereits im August zu einem heimlichen Besuch in der Türkei.
Verdächtige E-Mail
Während „die Quelle“ in der Türkei war, wurde am 1. Oktober eine skandalöse Mail aus Paris nach Ankara geschickt. Der für seine sensationellen Operationen gegen Kurden bekannte Staatsanwalt Thierry Fragnoli gab in seinem um 9.12 Uhr an die französische Botschaft in Ankara verschickten wütenden Schreiben dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep T. Erdogan eine Antwort. Erdogan hatte einige Tage vorher, Ende September, Frankreich und Deutschland verbal angegriffen und gesagt, dass insbesondere diese Länder eine Lösung des Problems nicht wollten und der Türkei nicht helfen würden. Laut Erdogan unterstützte der Westen die PKK finanziell und ließ PKK-Vertreter frei herumlaufen. Und Fragnoli war wütend darüber. Der Staatsanwalt lobte sich mit den Worten: „Seit 2006 bis heute ist Frankreich das einzige Land, dass PKK-Militante festnimmt, vor Gericht stellt, verurteilt und verhaftet.“ Neben ihm selbst seien drei Richter, ein Hilfsrichter und 28 Kommissare ausschließlich mit PKK-Aktivitäten beschäftigt. Dieselbe Mail wurde um 11.32 Uhr mit einem freundlichen Anschreiben an den türkischen Nationalisten M.G. versendet, der sich selbst als Forscher ausgibt und Armeniern und Kurden gegenüber feindselig eingestellt ist.
Nicht einmal eine Woche nach dieser Mail wurde am 6. Oktober der KNK-Vertreter Adem Uzun während eines Gesprächs in Montparnasse verhaftet. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte Uzun eines versuchten Waffenkaufs. Der Hinweis war vom türkischen Nachrichtendienst gekommen. Die französischen Dienste agierten außerhalb der Gesetze, setzten ihre Agenten in Bewegung und ließen eine Falle aufstellen. Die Telefonüberwachung von Uzun hatte nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Letztendlich räumte die französische Justiz ein, dass die Staatsanwaltschaft einen Komplott geschmiedet hatte. Am 9. August 2013 wurde Uzuns Freilassung angeordnet. Die damaligen antikurdischen Operationen der französischen Behörden und die Regierungspolitik bereiteten jedoch den Boden für die furchtbaren Verbrechen, die der türkische Staat begehen sollte.
Anschlagsbefehl
Im November 2012 traf der Befehl ein, auf den „die Quelle“ gewartet hatte. Es war eine offene Antwort auf die geheimdienstlichen Informationen, die einen Monat zuvor unter dem Namen „Legionär“ verschickt worden waren. Der Plan war jedoch geändert worden, denn die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz war aus Deutschland nach Paris zurückgekehrt, um ihren Pass zu erneuern.
Der mit einem Geheimvermerk versehene MIT-Befehl vom 18. November 2012 trug die Unterschriften von O. Yüret, U.K. Ayık, S. Asal und H. Özcan. Die Botschaft war eindeutig und betraf Sakine Cansiz, Codename Sara:
„In einer im Oktober an uns verschickten E-Mail von LEJYONER, zu dem entsprechend der Ziele, die Aktivitäten von KONGRA-GEL (PKK) KCK in FRANKREICH/Paris zu dechiffrieren und außerdem hochrangige Organisationsmitglieder unschädlich zu machen, Kontakt besteht, ist mitgeteilt worden, dass einer der wichtigsten in EUROPA aktiven Kader von KONGRA-GEL (PKK) KCK, Sara Code Sakine CANSIZ nach Paris / Villiers Le Bel gekommen ist.
Die einige Tage nach der Ergreifung von Adem UZUN durch französische Sicherheitskräfte in FRANKREICH eingetroffene Sara Code Sakine CANSIZ hat über die von der Organisation beauftragte Vermittlung der Quelle offizielle Angelegenheiten wie die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis und des Passes erledigt.
Als die Quelle zum letzten Mal zu Gesprächen mit unserer Seite in unser Land gekommen ist, ist die Anordnung erteilt worden, im Rahmen der für operative Möglichkeiten in Form von Angriff/Sabotage/Anschlag gegen die Organisationsziele in EUROPA Vorbereitungen gegen die festgelegten Personen zu treffen, die für die Arbeit notwendige Ausrüstung bereitzustellen und bei jeder Form der Kommunikation mit unserer Seite maximale Sorgfalt zu zeigen. Für mögliche Ausgaben ist eine Zahlung von 6000 Euro geleistet worden.
Die Quelle hat die Möglichkeit erreicht, in der kommenden Zeit über die allgemeinen Aktivitäten in EUROPA, die Kommunikationskanäle, die Schriftverkehr- und Aufenthaltsadressen von Sara Code Sakine CANSIZ informiert zu sein, und kann auch im Rahmen eines operationellen Vorhabens zur Unschädlichmachung des genannten Organisationsmitglieds eingesetzt werden.
In diesem Zusammenhang wird geplant, unter Berücksichtigung der Sicherheit der Quelle und Tätigkeit, LEJYONER mit den zuvor festgelegten codierten Ausdrücken im Rahmen einer Initiative gegen Sara Code Sakine CANSIZ zu beauftragen.“