„Denkt immer daran, dass große Stürme mit einem einzigen Tropfen beginnen“

Zum dritten Todestags des Internationalisten Lorenzo Orsetti hatte das Kollektiv „Berlin Migrant Strikers“ ins Tommy-Weisbecker-Haus eingeladen: „Von den Erinnerungen eines gefallenen Partisanen bis zu den Klassenkämpfen im heutigen Europa“

Anlässlich des dritten Todestages des Internationalisten Lorenzo Orsetti (Tekoşer Piling), der am 18. März 2019 in der Offensive der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) auf die letzte IS-Bastion al-Bagouz im ostsyrischen Deir ez-Zor ums Leben gekommen ist, wurde der Dokumentarfilm „Tekoşer" des Regisseurs Dario Salvetti im Tommy-Weisbecker-Haus in Berlin gezeigt.


Die Vorführung, die vom Kollektiv „Berlin Migrant Strikers“ organisiert wurde, begann mit einer kurzen Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen des Kollektivs und des Berliner Komitees von „Women Defend Rojava". Nach der Filmvorführung gab es ein Onlinetreffen mit Gästen aus Florenz, direkt aus dem GKN-Werk, wo an diesem Abend auch der Dokumentarfilm gezeigt wurde, mit dem Regisseur Dario Salvetti und Alessandro Orsetti, Lorenzos Vater. Am Anfang des Gesprächs wurden einige Standpunkte und Erfahrungen der internationalistischen Frauen innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung erörtert.


Unmittelbar danach erzählte Alessandro von seinen sehr persönlichen Erfahrungen als Vater eines gefallenen Internationalisten und über seine Gründe, sich über den Tod seines Kindes hinaus weiter für die Revolution in Nord- und Ostsyrien einzusetzen.

Der Regisseurs Dario Salvetti berichtete im Anschluss über seine Motivation, den Dokumentarfilm zu drehen, und teilte auch einige Überlegungen über den Kampf, den Salvetti selbst in Italien führt.

Der Dokumentarfilm, benannt nach dem Kampfnamen „Têkoşer Piling", den Lorenzo als militanter Internationalist trug, erzählt die Geschichte von Lorenzo von dem Zeitpunkt an, als er im Alter von 33 Jahren beschloss, seine Heimatstadt Florenz zu verlassen, in der er geboren und aufgewachsen war und mehrere Jahre als Koch gearbeitet hatte, bis zu seinem Tod im Jahr 2019 in Deir ez-Zor im Osten Syriens.


Der Dokumentarfilm, inspiriert von dem Buch „Orso - Syria, Schriften aus Nordostsyrien", erzählt Lorenzos Geschichte anhand der Aussagen seines Vaters Alessandro, einiger seiner Familienmitglieder und anderer Internationalisten, italienischer Männer und Frauen, ehemaliger Kämpfer der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ). Der Regisseur Dario Salvetti, ein Gewerkschaftsaktivist aus Florenz, beschloss, diese Geschichte zu erzählen, weil er von der Entscheidung eines seiner Mitbürger, an der Revolution in Rojava teilzunehmen, beeindruckt war. Der Regisseur machte deutlich, dass er die Geschichte in Anlehnung an die literarische Strömung des italienischen Neorealismus erzählen wollte, indem er die Figur des Lorenzo in einer klaren und konkreten Dimension fernab jeglicher Rhetorik darstellte und die Darstellung eines ikonografischen Bildes des Protagonisten vermied. Lorenzo erklärte sich selbst zum Anarchisten, und nachdem er jahrelang als Koch in Restaurants in Florenz gearbeitet hatte, fühlte er sich dem Kampf des kurdischen Volkes und Nordostsyriens zugehörig und glaubte, dass dies auch sein Kampf sei.

Das Ergebnis ist ein Dokumentarfilm, der besonders bewegend ist, weil er einen einfachen, aber äußerst authentischen Mann porträtiert, der, enttäuscht von der westlichen Lebensweise, die von der Heuchelei des Kapitalismus und des Patriarchats beherrscht wird, Antworten in der Revolution des kurdischen Volkes sucht, die von den Ideologien des demokratischen Konföderalismus angeführt wird. Er reiste Ende 2017 aus und sobald er in Rojava ankam, drückte er seine Begeisterung aus und übermittelte sie an seine Lieben in Italien. Aus seinen Worten geht hervor, wie sehr ihn die Tatsache ermutigte, dass es im Nahen Osten ein politisches und soziales Projekt gibt, bei dem Menschen verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen durch authentische Werte der Geschwisterlichkeit und gegenseitigen Solidarität verbunden sind, die über das Konzept eines Nationalstaats hinausgehen. In seinen Aussagen kommt auch sein Schmerz darüber zum Ausdruck, dass die revolutionären Kräfte zwar Männer und Frauen im Krieg verloren haben, aber immer noch ein Lächeln auf den Lippen haben, und dann vom Islamischen Staat (IS) auf der einen Seite und der Invasion der türkischen Armee auf der anderen Seite erstickt werden sollen.

Mit der Auswahl der „Erzähler" (der interviewten Personen) der Geschichte möchte Regisseur Dario Salvetti jedoch auch die Tiefe der Persönlichkeit von Lorenzo hervorheben, der sich von jeder Form der Indoktrination fernhalten und stattdessen ein hohes Maß an Kritik und Selbstkritik bewahren wollte. Konsequenz in Wort und Tat und ständige Selbstkritik sind die Grundpfeiler der Ideologie der kurdischen revolutionären Bewegung und werden auch in den militärischen Strategien der Demokratischen Kräfte Syriens als unverzichtbare Praxis umgesetzt. Aus seinen direkten Aussagen und den Worten derer, die seine letzten Jahre mit ihm geteilt haben, geht ein Lorenzo hervor, der sich nicht nur durch sein lebhaftes Interesse am sozialen Experiment der Gemeinden in Rojava auszeichnet, sondern auch durch seinen Mut, den er bei vielen Aktionen bewiesen hat, sowohl in der Defensive, wie beim Widerstand in Efrîn 2018 gegen die türkische Invasion, als auch durch die Teilnahme an mehreren Offensiven – wie in Deir ez-Zor und Hajin – bei dem Versuch, diese Städte von der Hegemonie des Islamischen Staates zu befreien.

Alessandros Vater erzählt von einem Sohn, der sich verändert hat, der im Nahen Osten zu einem Mann geworden ist, der sich seiner Rolle in diesem Kontext voll bewusst ist und der deshalb fast unermüdlich an die Front des Krieges zu gehen scheint. Sein volles Bewusstsein geht auch aus dem Video hervor, das aufgenommen wurde, bevor er an jenem Montag, dem 18. März, im Dorf al-Baghouz Fawqani während der Operation an der Front von Deir ez-Zor gegen eine der letzten Bastionen des IS fiel. In dem Video, das eigentlich sein Testament ist, erklärt Lorenzo, dass er nichts bereut, da er sich bewusst ist, dass er im Falle seines vorzeitigen Todes immer noch glücklich und zufrieden mit seinen Entscheidungen sein würde, da er überzeugt ist, dass er seine Ideale von Gerechtigkeit und Freiheit in konkrete Taten umsetzen konnte, indem er sich weiterhin für die Schwächsten einsetzt. Seine berühmt gewordenen Worte „Und denkt immer daran, dass große Stürme mit einem kleinen Tropfen beginnen. Versucht, dieser Tropfen zu sein" sind ausdrücklich eine Aufforderung, nicht traurig zu werden, in den dunkelsten Momenten nicht in Resignation zu verfallen, sondern gerade in diesen Momenten einen nie dagewesenen Mut und Willen aufzubringen. Schließlich hoffte er, dass seine Geste andere Aktivisten dazu inspirieren würde, sogar ihr eigenes Leben zu opfern, damit andere leben können.

Nach seinem Tod wollte die Familie Orsetti trotz des tiefen Schmerzes über den Verlust ihren eigenen Kampf fortsetzen, indem sie die Revolution in Nord- und Ostsyrien durch die Mittel, die durch die Veröffentlichung des Buches, die Gründung der Stiftung „Orsetti" und verschiedene andere Initiativen aufgebracht wurden, unterstützte und sich weiterhin dafür einsetzte, das kurdische Volk bei seinem politischen Projekt zu unterstützen.

Der Regisseur Dario Salvetti interessierte sich für die Geschichte dieses Partisanen, weil er nicht nur mit seinem eigenen Viertel in Florenz (Rifredi) verbunden war, aus dem Lorenzo selbst stammte, sondern auch und vor allem, weil er ein prominenter Aktivist war und deshalb dieser Erinnerung eine Stimme geben wollte. Er beschloss auch, sofort zu handeln, und so gelang es ihm in kurzer Zeit, die Stimmen und Zeugnisse zu sammeln, aus denen der Dokumentarfilm entstand. Dario, der selbst seit Jahren gewerkschaftlich aktiv ist, hat sich im letzten Jahr als Protagonist in einem Kampf gegen den Machtmissbrauch der kapitalistischen Gesellschaft engagiert, der in diesem Fall durch das Werk Campi Bisenzio des Unternehmens GKN – ein britischer multinationaler Konzern, der Bauteile für Autos herstellt – ausgeübt wurde, das am 9. Juli 2021 per E-Mail mit nur zwei Tagen Vorlaufzeit das Entlassungsverfahren gegen seine Beschäftigten einleitete. Salvetti, der bereits in der Gewerkschaft aktiv war, die Jahre zuvor nach dem Eintritt des Finanzfonds Melrose gegründet wurde, arbeitet seit Juli an der Einrichtung einer ständig anwesenden Gruppe in derselben Fabrik. Als Reaktion auf die von Melrose angestrebte Verlagerung, die ihre finanziellen Interessen hinter dem sogenannten „grünen Übergang" verbirgt, hat das GKN-Werkskollektiv in erster Linie die Aufhebung des Entlassungsverfahrens aufgrund seiner Rechtswidrigkeit gefordert und dann das Recht auf eine direkte Bewertung des Reindustrialisierungsplans eingefordert, wobei es einen Plan für die Kontinuität der Beschäftigung verlangt, der, wie Salvetti selbst sagt, „den Schutz der Grundrechte der Arbeitnehmer gewährleistet, um zu vermeiden, dass dieser Übergang nur dazu dient, ein soziales Gemetzel zu veranstalten". Am 18. September 2021 wurde gegen die Rechtswidrigkeit des Verfahrens vor Gericht demonstriert, es gelang dem Kollektiv am 30. Oktober eine Mobilisierung gegen den G20-Gipfel, gefolgt von einem landesweiten Streik am 20. November, an dem neben der Unterstützung des Umweltnetzwerks auch Student:innen und Arbeiter:innen mitwirkten, und der letzten Demonstration am 26. März in Florenz, auf der auch die Gelegenheit genutzt wurde, um die Ablehnung gegen Putins Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen.

Der Kampf des GKN-Fabrikkollektivs ist nicht nur ein Kampf für den Schutz seiner Beschäftigten, sondern auch ein Aufruf, sich zusammenzuschließen und sich gemeinsam aus verschiedenen sozialen Lebensrealitäten gegen staatliche Institutionen zu erheben, die, indem sie nur dieselben wirtschaftlichen Interessen schützen, bereit sind, den Einzelnen zu vernichten, indem sie seine grundlegendsten Rechte nicht respektieren und de facto die Unzulänglichkeit des sozioökonomischen Modells des Nationalstaats im 21 Jahrhundert.