Demirtaş: Das politische Blatt kann sich wenden

Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş ist in der Türkei zu einer weiteren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Gesamtstrafe von 55 Jahren basiert auf seinen früheren Äußerungen als Ko-Vorsitzender der HDP.

Ehemaliger HDP-Vorsitzender erneut verurteilt

Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş ist in einem weiteren Prozess in der Türkei zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ein Strafgericht in Mersin verurteilte den Politiker aufgrund von 2015/2016 öffentlich gehaltener Reden wegen „Herabwürdigung der Regierung, der Justiz, des Militärs und der Polizei“ zu zweieinhalb Jahren Gefängnis.

Demirtaş ist im November 2016 verhaftet worden und nahm über eine Videoübertragung aus der Vollzugsanstalt Edirne an der Verhandlung teil. In seinem Schlusswort vor der Urteilsverkündung kritisierte er das Plädoyer der Staatsanwaltschaft als einen im Copy-Paste-Verfahren erstellten Text ohne juristische Grundlage. Es handele sich um einen politischen Prozess, betonte der Angeklagte:

„Auf der einen Seite steht der kurdische Terrorist Selahattin Demirtaş und auf der anderen Seite der Staat. Natürlich wird das Urteil zugunsten des Staates ausfallen, denn das Verfahren ist politisch motiviert. Dieser Prozess dauert seit sieben Jahren an und wird ein weiteres Mal die Rechtsprechung des europäischen Menschenrechtsgerichtshof verletzen. Wenn ich ein faschistischer Politiker wäre, würde die Justiz mich schützen. Weil ich jedoch ein kurdischer Politiker bin und mein Recht auf Kritik ausübe, werde ich angeklagt und verurteilt. Mittlerweile habe ich Strafen von insgesamt 55 Jahren bekommen, allein aufgrund meiner Äußerungen.“

Von Erdoğan 143 Mal als Mörder und Terrorist beschimpft

Er sei von Staatspräsident Tayyip Erdoğan 143 Mal als Mörder und Terrorist beschimpft worden, sagte Demirtaş und wies auf den doppelten Standard in der Justiz hin. Diese Beleidigungen würden nicht strafrechtlich verfolgt, er selbst sei angeklagt, weil er den türkischen Präsidenten als Serienmörder bezeichnet habe. Demirtaş legte dem Gericht Bilder von getöteten und misshandelten Zivilist:innen während der Ausgangssperren in kurdischen Städten in den Jahren 2015 und 2016 vor und erklärte: „Ich habe gesagt, dass der Staat Folter verübt und dafür juristisch zur Rechenschaft gezogen werden muss. Inwiefern ist das eine Herabwürdigung?“

Das Schlusswort des Angeklagten wurde vom Gericht unterbrochen, als Demirtaş eine Passage aus einer früheren Verteidigungsschrift vortrug. Demirtaş fragte daraufhin den Richter, ob er die Realität nicht verkraften könne. Als Zuschauer:innen im Saal applaudierten, sagte der Richter, die Verhandlung sei keine Kundgebung. Selahattin Demirtaş entgegnete, dass sich das politische Blatt wenden könne und sich dann auch der Richter vor der Justiz werde rechtfertigen müssen: „Heute spreche ich aus dem Gefängnis zu Ihnen, aber vielleicht werde ich eines Tages auch als Regierung der Republik Türkei sprechen.“

Trotz EGMR-Urteil im Gefängnis

Selahattin Demirtaş ist seit bald acht Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde im November 2016 zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter die frühere Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ, verhaftet. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird er nicht freigelassen. Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava wurde Demirtaş im Mai zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt.