„Dekrete sind mit dem Ende des Ausnahmezustands nichtig“

Der Menschenrechtsverteidiger und Jurist Hüsnü Öndül bewertet die Verstetigung der Ausnahmezustandsbedingungen in der Türkei und sagt, dass die Notstandsdekrete mit dem Ende des Ausnahmezustands nichtig sind.

Der zweijährige Ausnahmezustand in der Türkei hinterlässt 35 Dekrete, durch die 129.410 Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes entlassen wurden. In vielen Städten wurden für jeweils drei Monate Versammlungsverbote verhängt. 70 Zeitungen, 25 Radiosender, 20 Zeitschriften, 18 Fernsehkanäle und 431 Vereine wurden geschlossen und Streiks verboten. Nun wird der Ausnahmezustand durch einen ins Parlament eingebrachten Gesetzentwurf de facto drei weitere Jahre andauern. Mit dem neuen Gesetz wird die Vollmacht, über Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst zu entscheiden, dem zuständigen Minister bzw. den betreffenden Behörden überlassen. Nach der Rechtsnorm müssten eigentlich alle unter dem Ausnahmezustand als Dekrete in Kraft getretenen Entscheidungen mit dem Ende des Ausnahmezustands nichtig sein. Der Gesetzentwurf der AKP-Regierung geht jedoch weit darüber hinaus. So sollen nicht nur die Entscheidungen weiter in Kraft bleiben, es soll weiter ermöglicht werden, ähnliche Entscheidungen wie im Ausnahmezustand zu treffen.

Der Jurist und Menschenrechtler Hüsnü Öndül bewertete den neuen Gesetzentwurf zum Ausnahmezustand gegenüber ANF.

Mit dem neuen Gesetz werden die Freiheiten beschnitten

Zum Ende des Ausnahmezustands und der juristischen Übertragung der Vollmachten an Ministerien und Gouverneursämter sagte Öndül: „In einer solchen Situation hat die juristische Aufhebung des Ausnahmezustands in der Praxis nicht die geringste Bedeutung. In Hinsicht auf die für drei Jahre erteilten Kompetenzen und die Einschränkungen der Freiheitsrechte können wir sagen, dass der Ausnahmezustand eigentlich um drei weitere Jahre verlängert wurde. Verfassungsmäßig wird das Ausnahmezustandsregime aufgehoben. Der Ausnahmezustand hatte seine eigene Prozedur und wurde vom Ministerrat ausgerufen. Jetzt kann ihn der Staatspräsident alleine ausrufen. Diese Vollmacht wird jedoch nicht genutzt. Mit dem neuen Gesetz werden die Kompetenzen, welche die Exekutiv- und die Ermittlungsorgane, also die Gouverneure und Staatsanwaltschaften, im Rahmen des Ausnahmezustands hatten, für drei Jahre im Voraus bestätigt.“

Die Dekrete werden nach dem Ausnahmezustand nichtig

In juristischer Hinsicht hätten die Notstandsdekrete nur während des Ausnahmezustands Gültigkeit, erklärte Öndül weiter: „Die Dekrete sind in einem anderen Rechtszusammenhang entstanden und werden nun nach dem Ende des Ausnahmezustands in eine Rechtsform überführt. Aber das widerspricht der Rechtsnorm. Nach dem Ende des Ausnahmezustands werden alle in dieser Zeit gefällten Entscheidungen nichtig. Normale Gesetze gehen durch die Ausschüsse, die Öffentlichkeit wird über sie informiert und es findet im Parlament eine Debatte darüber statt. Notstandsdekrete werden erst durch Parlamentsbeschluss zum Gesetz. Sie gelten nur im Ausnahmezustand als Gesetze. Außerhalb des Ausnahmezustands sind nur Gesetze gültig, die aus der Gesetzgebung des Normalzustands hervorgehen.“

Es handelt es sich nicht um Gesetze, sondern um Beschlüsse

Die im Ausnahmezustand gefassten Dekrete nun als Gesetzentwurf ins Parlament einzubringen, macht daraus keine Gesetzgebung, sagte Öndül: „Diese Dekrete waren von Anfang an keine Gesetze, es handelt sich um Beschlüsse. Wenn wir das Ganze von der menschen- und verfassungsrechtlichen Warte betrachten, dürfen die Dekrete nicht in die Gesetzgebung überführt werden. Im Parlament wird nur eine Entscheidung getroffen, ein Gesetz ist damit nicht gemacht. Das ist aber ebenfalls auf die Zeit des Ausnahmezustands beschränkt.“