Corona: Dramatische Zustände in türkischen Gefängnissen

Die Gefangenenhilfsorganisation MED TUHAD-FED macht in einer Wochenbilanz auf die dramatischen Zustände in türkischen Haftanstalten aufmerksam. Unter anderem sei bei einem Gefängnisarzt in Tarsus eine Coronainfektion nachgewiesen worden.

Die Gefangenenhilfsorganisation MED TUHAD-FED hat vor den dramatischen Zuständen in türkischen Gefängnissen gewarnt und die Regierung erneut aufgefordert, alle Gefangenen unverzüglich aus der Haft zu entlassen. In der Türkei ist die Zahl der Infektionen und Todesfälle infolge einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus drastisch angestiegen. Darauf weist MED TUHAD-FED auch im jüngsten Wochenbericht zur Lage in den Strafvollzugsanstalten in der Türkei und unterstreicht, dass besonders Gefangene wegen der Pandemie gefährdet seien, da die Gefängnisse dem Coronavirus ideale Ausbreitungsmöglichkeiten bieten. Aufgrund der beengten Lebensumstände sei es unmöglich, den empfohlenen Sicherheitsabstand gegen eine Ansteckung einzuhalten. Zudem fehle es in den um fast ein Drittel überbelegten Gefängnissen im Land an der notwendigen Hygiene, der Zugang zu medizinischer Versorgung sei stark eingeschränkt.

Vergangene Woche ist in der Haftanstalt der Schwarzmeerprovinz Samsun der 70 Jahre alte Gefangene Mehmet Yener an Covid-19 gestorben. Auch aus anderen Gefängnissen wurden bereits Verdachtsfälle gemeldet. „Vor diesem Hintergrund appellieren wir an die Regierung, den ins Parlament eingebrachte Gesetzentwurf über eine ‚Corona-Amnestie‘ zu erweitern und politische Gefangene miteinzubeziehen“, fordert die Hilfsorganisation. Bisher schließt die Vorlage die Freilassung von Menschen, die aufgrund der umstrittenen Antiterrorgesetze in Haft sind, aus. Damit verstößt die Türkei gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz. „Der Staat darf nicht sein eigenes Gleichheitsprinzip ignorieren. Ohne zu diskriminieren muss das Gesetz zur Implementierung von Straferlass so schnell wie möglich verabschiedet werden“, verlangt MED TUHAD-FED. Denn sollte die Lungenkrankheit in den Gefängnissen ausbrechen, drohe ein Massensterben. Gefangene sollten in Zeiten der Pandemie ihre Zeit mit ihren Familien verbringen. Die Regierung dürfe den Aufschrei internationaler Organisationen nicht länger ignorieren.

Die durch Anwalts- und Familienbesuche bei Gefangenen zusammengetragenen Informationen zur aktuellen Lage in den Gefängnissen listet die Organisation wie folgt auf:

* Im D-Typ-Gefängnis von Diyarbakir (kurd. Amed) wird regelmäßig das Wasser abgestellt. So ist der Schutz vor einer Infektion – häufiges Händewaschen – nicht umsetzbar. Zudem riecht es penetrant nach Kanalisation. Das Essen ist schlecht und wimmelt nur so vor Insekten. Strafanzeigen von Gefangenenangehörigen werden von der Staatsanwaltschaft nicht aufgenommen.

* Im Gefängnis Türkoğlu in Maraş (Gurgum) wurden mehrfach Gemeinschaftszellen gestürmt. Die Aufseher trugen dabei kugelsichere Westen und bedrohten die Gefangenen mit Schlagstöcken. An das Abstandsgebot hielt sich das Personal nicht.  

* Eine Gemeinschaftszelle im T-Typ-Gefängnis von Van (Wan) wurde in der Nacht zum 3. April durchsucht. Die Gefangenen Ramazan Simit, Harun Simit und Fırat Kırdağ wurden zusammengeschlagen, in ein Krankenhaus brachte man sie nicht.

* Ein im Hochsicherheitsgefängnis von Van angestellter Mitarbeiter ist trotz eines positiv auf das Coronavirus getestetes Familienmitglied nach wie vor im Dienst. Die Gefangenen haben Angst, sich in der Enge mit dem Coronavirus zu infizieren. Außerdem werden Geldzahlungen von Gefangenenangehörigen von der Anstaltsleitung einbehalten. Einkäufe im Gefängniskiosk dürfen auf Anordnung nur noch vierzehntägig stattfinden.

* Im Frauengefängnis von Kayseri-Bünyan zeigen immer mehr Inhaftierte Corona-Symptome. Am häufigsten zeigen sich bei Betroffenen Sehverlust, Brennen im Hals und Atembeschwerden. Trotzdem wurde keine von ihnen in ein Krankenhaus eingeliefert.

* Im T-Typ-Gefängnis von Urfa-Hilvan (Curnê Reş, Provinz Riha) werden Gefangene bei gesundheitlichen Beschwerden nicht auf die Krankenstation verlegt. Der Gefängnisarzt verschreibt Medikamente, ohne eine Untersuchung bei den Gefangenen durchzuführen. Überweisungen für Insassen mit schwerwiegenden Beschwerden wie Nieren- und/oder Herzerkrankungen an ein externes Krankenhaus werden verweigert.

Infizierter Arzt führt Untersuchungen durch

* In Gemeinschaftszellen im T-Typ-Gefängnis von Tartus wurden vor kurzem Gesundheitsinspektionen von einem Arzt durchgeführt, bei dem zwischenzeitlich eine Coronavirus-Erkrankung nachgewiesen wurde.

* Der im T-Typ-Gefängnis von Osmaniye inhaftierte politische Gefangene Sabri Kaya befand sich vergangene Woche wegen Hirnblutungen und einem Herzinfarkt drei Tage lang auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Die Gefängnisleitung hatte ihm einen Monat lang die notwendigen Blutverdünner verweigert. Dies gilt als mögliche Ursache für seinen Herzinfarkt. Dennoch wurde er zurück ins Gefängnis gebracht. Da sich seine Situation am Samstag rapide verschlechterte, befindet er sich nun wieder im Krankenhaus.

* In der offenen Vollzugsanstalt von Izmir-Aliağa/Şakran ist der Gefangene Ismet N. an den Folgen von Covid-19 gestorben. Beim Anstaltsarzt im T-Typ-Gefängnis im gleichen Ort wurde eine Coronavirus-Infektion festgestellt.

* Der im H-Typ-Gefängnis von Erzurum (Erzîrom) inhaftierte Gefangene Şevket Kamış befindet sich in Bunkerhaft. Nahezu täglich wird seine Zelle willkürlich durchsucht, außerdem wird er Körperkontrollen unterzogen.