Keine 24 Stunden nach seiner Verhaftung in Istanbul ist der CHP-Politiker Enis Berberoğlu aus dem Gefängnis in Maltepe entlassen worden. Die restlichen 18 Monate seiner Haftstrafe dürfe der Journalist, der 2018 in einem Spionageprozess zu fast sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, bis vorerst zum 31. Juli 2020 zu Hause absitzen. Danach soll geprüft werden, ob Berberoğlu zurück ins Gefängnis muss.
Dem CHP-Abgeordneten war am Donnerstag zeitgleich mit den HDP-Parlamentsmitgliedern Leyla Güven und Musa Farisoğulları das Mandat und somit die Immunität entzogen worden. Kurz darauf wurden alle drei zur Fahndung ausgeschrieben; Berberoğlu nahm die Polizei in Istanbul fest, während Güven und Farisoğulları in Amed (türk. Diyarbakir) inhaftiert wurden. Als Begründung werden rechtskräftige Urteile herangezogen.
Enis Berberoğlu wird vorgeworfen, der Zeitung „Cumhuriyet“ geheime Informationen über Waffentransporte der türkischen Regierung an dschihadistische Gruppen in Syrien zugespielt zu haben. Leyla Güven und Musa Farisoğulları wurden im März 2017 im Rahmen des international kritisierten KCK-Verfahrens wegen Terrorvorwürfen zu verschiedenhohen Freiheitsstrafen verurteilt. Vergangenen September bestätigte ein Berufungsgericht die Haftstrafen von sechs Jahren und drei Monaten gegen Güven und neun Jahren gegen Farisoğulları. Beide Politiker*innen waren deshalb im Jahr 2009 verhaftet worden – Leyla Güven war zu dem Zeitpunkt Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar (Viranşehir) – und saßen danach knapp fünf Jahre im Gefängnis. Nach gültiger Rechtslage hätte Güven damit nur noch eine Reststrafe von zwei Monaten abzusitzen. Von der Corona-Amnestie wird sie allerdings genauso wenig profitieren wie ihr Fraktionskollege Farisoğulları. Politische Gefangene sind von dem Straferlass explizit ausgenommen.
Corona-Amnestie: Feindstrafrecht
Im April hatte die islamisch-konservative AKP zusammen mit ihrem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP ungeachtet heftiger nationaler und internationaler Kritik ihr umstrittenes Rachegesetz nach dem Vorbild des Feindstrafrechts verabschiedet. Durch die Änderungen im Strafvollzug kamen bereits rund 90.000 Strafgefangene – größtenteils Kriminelle – in den Genuss einer Umwandlung der Haftstrafe in Hausarrest oder einer vorzeitigen Entlassung. Für Zehntausende politische Gefangene, darunter zahlreiche Journalist*innen und Menschenrechtler*innen, gegen die keine konkrete Anklagen vorliegen, sondern lediglich vage „Terrorvorwürfe“ formuliert werden, und kurdische Politiker*innen, gegen die Anschuldigungen erhoben werden, die sich auf konstruierte Indizien und Denunziationen stützen, ändert sich durch die Gesetzesänderung nichts.