Die Gefangenen in den überfüllten Haftanstalten in der Türkei sind dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert. Nach Angaben von Justizminister Abdulhamit Gül sind in vier Gefängnissen 120 Infektionsfälle festgestellt worden. Laut Staatsanwaltschaft sind allein in der Strafvollzugsanstalt Konya 55 Infektionen bestätigt worden. Angehörige von Gefangenen berichten von COVID-19-Symptomen in Dutzenden Haftanstalten. Die Gefangenen beklagen, dass sich die ohnehin schon prekäre Gesundheitsversorgung seit dem Ausbruch der Pandemie dramatisch verschlechtert hat.
Der HDP-Abgeordnete Musa Farisioğulları fordert vor diesem Hintergrund umfassende Testungen in den Gefängnissen. Auf einer Pressekonferenz vor dem Gebäude des DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) in Amed (Diyarbakir) äußerte sich der HDP-Politiker zu der im türkischen Parlament verabschiedeten Reform des Strafvollzugsgesetzes. Eigentlich müsse die Reform „Çakıcı-Amnestie“ genannt werden, sagte Farisioğulları: „Der Entwurf zum Vollzugsgesetz, der vom AKP/MHP-Block gemeinsam vorgelegt wurde und von der Opposition als ‚verdeckte Amnestie‘ bezeichnet wird, ist ungerechterweise und in Begleitung von pompöser Marschmusik verabschiedet worden. Mit diesem Gesetz sind der Mafiaboss Alaattin Çakıcı – ein treuer Freund von MHP-Chef Bahçeli – und Tausende weitere Verbrecher freigelassen worden.“
Kranke Gefangene, Frauen, Journalisten und politische Gefangene werden hingegen weiter festgehalten, sagte der HDP-Abgeordnete: „Laut den Informationen, die uns in den letzten Tagen erreicht haben, werden die notwendigen Schutzmaßnahmen in den Gefängnissen nicht umgesetzt. Die Gefangenen bekommen weder Masken noch Handdesinfektionsmittel. Einige werden trotz Corona-Symptomen nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern dem Tod überlassen. In allen Haftanstalten, insbesondere auch im Inselgefängnis Imrali, müssen Corona-Tests durchgeführt werden. Alte und kranke Gefangene müssen sofort freigelassen werden, ebenso Frauen mit Kindern.“
Für alle zu erwartenden Todesfälle in den Gefängnissen sei die AKP/MHP-Regierungskoalition verantwortlich, fügte Farisioğulları hinzu. Aus Angst vor einem Machtverlust lege es die Regierungspolitik darauf an, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen: „Eine Lösung der kurdischen Frage ist seit langem ad acta gelegt worden. Mit dem Vollzugsgesetz hat der Staat seine traditionell gegen das kurdische Volk gerichtete Politik ein weiteres Mal aktualisiert. Wut, Rache und Ehrgeiz haben sich mit der Angst des AKP/MHP-Blocks vor einem Machtverlust vermischt und zu einem neuen Aufschwung der nationalistischen Ideologie geführt. Die Diskriminierung der Kurden ist zum Gesetz geworden. Keine Pandemie ist so gefährlich wie die Wiederbelebung nationalistischer Mafiabanden in der Türkei. Die Ablehnung demokratischer Lösungsmethoden und die Verabschiedung von Mafiagesetzen wird die Gesellschaft in ein noch größeres Chaos treiben.“