Die Auszählungen der gestrigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei und Nordkurdistan dauerten bis in die späte Nacht an. Für alle, die sich einen klaren und schnellen Sieg der Opposition gewünscht haben, ist das Ergebnis ernüchternd gewesen. Das Rennen um das Präsidentenamt ist nicht entschieden, in zwei Wochen findet eine Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu statt. Auch im Parlament zeigt sich, dass die (ultra-)nationalistisch-islamistischen Kräfte insgesamt an Stärke gewonnen haben. Dies ist das kurze Fazit der gestrigen Wahlen, an denen sich 88,78 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten. Es gibt darüber hinaus jedoch einiges zu sagen, was diese kurze Sätze nicht umreißen können.
Zum Verlauf der Wahlen
Obwohl eine große Zahl internationaler Wahlbeobachter:innen in die Türkei gereist war und auch die Oppositionsparteien vor Ort viele Wahlhelfer:innen organisiert hatten, die sehr wachsam auf einen möglichst fairen Ablauf achteten, gibt es zahlreiche Berichte über verschiedene Wahlmanipulationen. Viele Einzelfälle müssen geprüft werden, doch generell lassen sich vor allem folgende Methoden nennen, die insbesondere von AKP-Anhänger:innen genutzt wurden, um die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen. (Über die konkret genannten Fälle berichteten wir in unserem gestrigen Liveblog sowie auf unserem Twitter-Account)
Hohe Militär- und Polizeipräsenz
An nahezu allen Wahllokalen, vor allem aber in den mehrheitlich kurdischen Gebieten, wurde von einer hohen Anzahl von Polizist:innen und Militärs berichtet. Während sie meist vor den Lokalen die Menschen einschüchterten, gab es auch Berichte von Soldaten, die in Gruppen die Wahllokale betraten, sich dort länger aufhielten und gezielt auf die Menschen zugingen und sie einschüchterten.
Gefälschte Wahlzettel und „stellvertretendes“ Wählen
Einige Videos zeigten, wie Menschen mehrere Stimmzettel abstempelten und abzugeben versuchten, oder wie sie versuchten, stellvertretend für Familienmitglieder zu wählen. So wollte ein Dorfvorsteher die Stimmen seines ganzen Dorfes selbst abzugeben. Es gab auch Berichte über Wahlhelfer:innen, die bewusst den Beglaubigungsstempel so setzten, dass Stimmen ungültig gemacht wurden oder gar für Erdoğan statt Kılıçdaroğlu zählten.
Unwissentliche Benennung als Wahlhelfer:in
Diese Strategie verfolgte unter anderem die nationalistische Vatan-Partei. Sie benannte tausende Menschen ohne deren Wissen als Wahlhelfer:innen. Da Wahlhelfer:innen ein zusätzliches Dokument beantragen müssen, um wählen zu dürfen, wurde den Menschen so die Möglichkeit zur Stimmabgabe genommen und sie wurden einfach aus den Wahllokalen abgewiesen.
Kleinere gewaltsame Zusammenstöße
Glücklicherweise kam es nicht zu den befürchteten größeren Ausschreitungen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen. Beobachtet wurden lediglich kleinere Rangeleien, die zumeist auf das Eingreifen von Wahlhelfer:innen der Grünen Linkspartei (YSP) bei Verdacht auf Wahlbetrug zurückzuführen waren, sowie zu einigen Konflikten, als AKP-Anhänger:innen an verschiedenen Orten versuchten, Menschen zur offenen Stimmabgabe zu zwingen.
Provokationen von staatlicher Seite
Während in der Nacht plötzlich Berichte über Schüsse und den Einsatz von Tränengas auftauchten, so etwa eine gezielte Provokation in Cizîr (Cizre), auf die sich die Menschen nicht einließen, waren es vor allem die staatlichen Verzögerungen bis tief in die Nacht, die zu der nicht enden wollenden Auszählung beitrugen. So wurden Hunderttausende von Stimmzetteln erst sehr spät ausgezählt, da die Auszählung mancherorts sechs- bis siebenmal wiederholt werden musste. Es gab sogar Berichte von Urnen, die elfmal ausgezählt wurden. Inwieweit hier Manipulationen stattgefunden haben, muss noch untersucht werden.
Zu den offiziellen Wahlergebnissen
Die letzten von der Hohen Wahlkommission (YSK) veröffentlichten Zahlen, an denen sich voraussichtlich nicht mehr viel ändern wird, lauten wie folgt:
Im Rennen um das Präsidentenamt
Quelle: artigerecek.com/secim-2023, zuletzt abgerufen am 15. Mai 2023, um 02:17 Uhr
Bei den Parlamentswahlen
Quelle: artigerecek.com/secim-2023, zuletzt abgerufen am 15. Mai 2023, um 02:17 Uhr
Wahlausgang für das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“
Im Bündnis für Arbeit und Freiheit wird es in den nächsten Tagen darum gehen, die Wahlergebnisse genau zu analysieren und eine entsprechende Politik zu entwickeln. Auch für die demokratische Opposition aus YSP und der Arbeiterpartei TIP ist der Urnengang nicht wie gewünscht verlaufen. Trotz der Tatsache, dass die YSP in den mehrheitlich kurdischen Gebieten stärkste Kraft geworden ist, hat sie im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen, bei denen die HDP noch angetreten war, nun 467.314 Stimmen und 1,35 Prozent verloren. Es zeigt sich auch, dass die Entscheidung der TIP, mit einer eigenen Liste anzutreten und nicht in einer Einheitsliste mit der YSP, ein Fehler war. Zwar verfügt die TIP nach wie vor über vier Sitze im Parlament, aber durch die Stimmenverteilung zwischen TIP und YSP gehen in der Gesamtrechnung mehrere Sitze im Parlament zu Lasten der kleineren Parteien verloren. Die Allianz konnte die kurze Zeit nach dem Erdbeben und nach dem strategischen Wechsel von HDP zu YSP nicht ausreichend nutzen, um die AKP und ihre in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaute Macht ausreichend zu erschüttern. Es ist ihr auch nicht gelungen, all jene zu erreichen, deren Hoffnungen in die türkische Politik inzwischen völlig zerbrochen sind und deren Stimmen am Ende den Unterschied hätten ausmachen können. Nun gilt es aber, die gewonnenen Prozente und Sitze zu nutzen und eine entsprechende Strategie zu entwickeln, denn klar ist, dass die YSP gerade jetzt, als letzte demokratische Kraft mit 63 Abgeordneten im Parlament, mehr denn je gebraucht wird. Sie trägt eine große Verantwortung und die nächsten Monate werden zeigen, ob sie dieser Rolle gerecht werden kann.
Mit Hinblick auf die kommende Stichwahl
Es ist fraglich ob die bevorstehende Stichwahl in zwei Wochen die große Wende bringen wird oder nicht. Die Möglichkeit eines Wahlsieges von Kılıçdaroğlu erscheint relativ unwahrscheinlich. Die Frage ist jedoch, wie sich die jeweiligen Parteien verhalten werden. So kursierten bereits gestern Abend Gerüchte über ein Telefonat zwischen Kılıçdaroğlu und dem unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan, in dem Oğan ihm seine Unterstützung unter der Bedingung zusicherte, die HDP „aus dem politischen System auszuschließen“. Oğan hat diese Äußerung mittlerweile dementiert, dennoch lässt sich festhalten, dass es sich bei Oğan um einen Nationalisten handelt, der selbst versucht, AKP und MHP am rechten Rand zu überholen. Dass ihm bei dieser Wahl die Rolle des Königsmachers zufallen könnte, ist keine gute Voraussetzung. Eine Unterstützung Kılıçdaroğlus durch Oğan würde es der demokratischen Opposition und der kurdischen Gesellschaft nahezu unmöglich machen, Kılıçdaroğlu zu wählen und ihm damit einen Großteil der Stimmen entziehen. Auch so ist davon auszugehen, dass viele, die aus der Notwendigkeit heraus, Erdoğan abzuwählen, das notwendige Übel in Kauf genommen und Kılıçdaroğlu gewählt haben (vor allem ein Verdienst der YSP), in der zweiten Runde nicht mehr zur Wahl gehen werden und damit den Anhänger:innen Erdoğans das Feld überlassen könnten. Man kann also sagen, dass Erdoğan zwar schwer angeschlagen ist, aber sein Ein-Mann-Regime wahrscheinlich um einige Jahre verlängern kann.
Ausblick
Der erhoffte plötzliche Wandel hin zu einer Demokratisierung der Republik Türkei und zur Einleitung eines neuen Friedensprozesses durch das Parlament ist vorerst ausgeblieben. Vielmehr ist es den nationalistisch-islamistischen Kräften mit allen Mitteln gelungen, ihren Einfluss noch weiter auszubauen. Nun stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Wie wird sich die Politik der Türkei in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln? Es sieht so aus, als würde das Parlament an seine nunmehr hundertjährige Tradition anknüpfen - Gewalt statt Diskussion, Unterdrückung von Frauen und Minderheiten statt Demokratie und totale Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.
Gerade deshalb richtet sich der Blick jetzt auf die strategische Diskussion innerhalb der YSP. Eine wirklich positive Entwicklung der Türkei kann derzeit nur über sie erfolgen und generell hängt alles davon ab, wie sich die Menschen in der nächsten Zeit verhalten werden. Es liegt an den Menschen der Türkei und Nordkurdistans selbst, die Verantwortung für sich zu übernehmen. Es liegt an den Menschen in der Türkei, neben dem Parlament eine wirkliche Basisdemokratie zu schaffen und sich für soziale Ökologie einzusetzen und insbesondere an den Frauen, für ihre eigene Befreiung einzutreten. Auch wenn die Wahlen an sich nicht das erhoffte Ergebnis gebracht haben, so zeigt sich doch einmal mehr, dass wir den Menschen vor Ort zutrauen müssen, ihren politischen Weg selbst zu gehen.