Die Bundesregierung hat erstmals die Existenz von „Hinrichtungslisten“ mit den Namen von Exil-Oppositionellen gegen das Erdoğan-Regime bestätigt. „Derzeit gibt es Hinweise zu verschiedenen Listen mit Namen von Personen, die der türkischen Regierung mutmaßlich kritisch gegenüberstehen“, schreibt Innenstaatssekretär Helmut Teichmann in seiner Antwort auf eine Anfrage von Helin Evrim Sommer, der entwicklungspolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Zuerst berichtete der Tagesspiegel davon.
Eine konkrete Liste habe die Bundesregierung derzeit nicht, soll es weiter heißen, die „Erkenntnisverdichtung“ dauere an. Im deutschen Exil lebende Kritikerinnen und Kritiker der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan hatten erfahren, dass unter türkischen Nationalisten hierzulande Listen im Umlauf seien, auf denen bis zu 55 Exil-Oppositionelle genannt werden sollen. Die Information über die Existenz dieser Liste stammt aus Kreisen der Polizei.
Erk Acarer trotz Polizeischutz weiter bedroht
In Deutschland werden immer wieder kritische Journalist:innen, Politiker:innen und Aktivist:innen aus der Türkei bedroht, mitunter auch attackiert. Erst vor knapp drei Wochen wurde der in Berlin lebende Journalist Erk Acarer im Hinterhof seines Neuköllner Wohnhauses von zwei Bewaffneten überfallen und zusammengeschlagen. Ein dritter Mann habe die Umgebung beobachtet. Obwohl er seitdem unter Polizeischutz steht, wird er weiter bedroht. Acarer, der unter anderem für den Kölner Exil-Sender Artı TV und die regimekritische türkische Zeitung Birgün arbeitet, hatte über die Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS berichtet und war dadurch ins Visier des Erdoğan-Regimes geraten.
Ferhat Tunç und Hasip Kaplan ebenfalls auf Todesliste
Der Chefredakteur von Artı TV, Celal Başlangıç, befindet sich ebenfalls auf einer Hinrichtungsliste. Der 65-jährige Journalist erhielt vergangene Woche Besuch von Seiten der Kriminalpolizei, die ihn davor gewarnt haben soll, dass seine Sicherheit in Gefahr sei. Am Wochenende machte dann der kurdische Musiker Ferhat Tunç bekannt, von der Polizei Darmstadt darüber informiert worden zu sein, dass sich sein Name auf einer Todesliste befindet. Auch der kurdische Politiker und ehemalige HDP-Abgeordnete Hasip Kaplan äußerte, von deutschen Sicherheitsbehörden aufgrund der Causa kontaktiert worden zu sein.
Sommer: Erdogans Terrornetzwerk in Deutschland ist aktiver denn je
Die Linkspolitikerin Helin Evrim Sommer, die das Bundesinnenministerium zu den aktuellen Vorfällen gefragt hatte, sagte am Montag gegenüber dem Tagesspiegel: „Erdogans Terrornetzwerk in Deutschland ist aktiver denn je. Mit systematisch erstellten Todeslisten soll ein Exempel an oppositionellen Exilanten statuiert werden. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich klar positioniert und ihrer Schutzpflicht nachkommt.“ Kanzlerin Angela Merkel müsse den türkischen Botschafter einbestellen: „Solche Hinrichtungslisten gefährden auch die innere Sicherheit Deutschlands.“
DJV: Hier wird eine Grenze überschritten
Die Einbestellung des Botschafters forderte jüngst auch der Deutsche Journalisten-Verband (DJV). DJV-Bundesvorsitzender Frank Überall begrüßt zwar die polizeilichen Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Exiljournalisten. „Das reicht aber nicht aus“, erklärte der Überall am Freitag. „Heiko Maas muss dem türkischen Botschafter unmissverständlich klar machen, dass hier eine Grenze überschritten wird und dass Drohungen und Gewalt gegen Journalisten, die hier Zuflucht vor dem repressiven Regime der Türkei gefunden haben, inakzeptable Straftaten sind.“