Die bayerische Justiz produziert weiterhin Urteile, wie sie eigentlich nur aus der Türkei bekannt sind. Eine aramäische Aktivistin aus dem Raum Augsburg soll wegen der Veröffentlichung von Beiträgen in den sozialen Medien zur Lage in Nordsyrien seit der Invasion der Türkei und verbündeten Dschihadisten eine Geldstrafe in Höhe von 3.600 Euro zahlen. Kommt sie dem gerichtlich erlassenen Strafbefehl nicht nach, drohen 90 Tage Gefängnis.
Die 38 Jahre alte Aktivistin der „Volksbewegung Revolutionäre Suryoye“ hatte seit der Invasion in Efrîn regelmäßig bei Facebook über den Widerstand gegen die drohende Annexion nordsyrischer und vor allem christlich besiedelter Gebiete durch die Türkei und von Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen an der Zivilbevölkerung berichtet. Daraufhin erhielt sie im vergangenen Oktober wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz eine Vorladung vom Staatsschutz. Da sie der Aufforderung nicht nachkam, flatterte Mitte Februar ein Strafbefehl ins Haus. Die Betroffene legte Einspruch ein, das Urteil steht noch aus.
Das AKP-Regime des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan scheint eine Vielzahl von Bewunderern in den Reihen der bayerischen Justiz und Polizei zu haben. Immer wieder machen die dortigen Behörden Schlagzeilen mit absurden Verfahren gegen Aktivist*innen der Kurdistan/Rojava-Solidarität und vermeintliche Mitglieder der in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachteten linken Organisationen DHKP-C oder TKP/ML, wie beispielsweise im fragwürdigen „Münchener Kommunistenprozess“ immer wieder deutlich wird. Aber auch Angehörige der Suryoye werden in Bayern gezielt kriminalisiert. Neben der Aktivistin aus Augsburg erhielten acht weitere Aramäer*innen Strafbefehle von Gerichten in Bayern. Bei ihnen handelt es sich um die Betroffenen der am 2. Oktober 2018, nur drei Tage nach dem Staatsbesuch Erdoğans in Deutschland, bundesweit durchgeführten Razzien. Den Aktivist*innen wird vorgeworfen, auf der Augsburger Mai-Demonstration 2018 gegen das Vereinsgesetz verstoßen zu haben. Nach Auffassung der Behörden führten sie Fahnen der DHKP-C mit sich, tatsächlich handelte es sich in allen Fällen um Flaggen der „Kommunistischen Aramäer Mesopotamiens“ (SGB) mit einem Hammer und Sichel auf rotem Grund. Bei SGB handelt es sich um einen Zusammenschluss, der im Jahr 2017 zum 100-jährigen Gedenken an die sozialistische Oktoberrevolution 1917 durch die „Volksbewegung Revolutionäre Suryoye“ gegründet wurde.
Hauptangeklagter in dem Augsburger Verfahren ist Sami Grigo Baydar. Der 28-Jährige ist Theologe in der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Als linker politischer Aktivist setzt er sich für die Rechte der Aramäer in der Türkei ein. Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe hat gegen Baydar zudem ein Prüfungsverfahren eingeleitet. Sie wirft dem Theologen nach § 129b StGB die „Bildung einer kriminellen und terroristischen Vereinigung im Ausland“ vor.
Volksrat der Aramäer: Kriminalisierung beenden
Der Volksrat der Aramäer aus Europa hat die Bundesregierung derweil wieder aufgefordert, die Kriminalisierung aramäischer Aktivisten in Deutschland zu beenden. In einer Stellungnahme kritisiert der Dachverband die guten Beziehungen der Bundesrepublik zum Regime in Ankara, obwohl die „hundertjährige wirtschaftlich-politische Zusammenarbeit des deutschen Imperialismus mit der faschistischen Türkei“ gekennzeichnet sei von Massakern und Völkermorden. Der Genozid an den Armeniern, Aramäern und anderen christlichen Ethnien von 1915 wurde von deutschen Offizieren mitvorbereitet, mahnt die Organisation. „Die Chemiewaffen für das Massaker in Dersim wurden im faschistischen Deutschen Reich hergestellt. Bei der Zerstörung von aramäischen und kurdischen Dörfern in den neunziger Jahren setzte die türkische Armee hauptsächlich Waffen ein, die von der Bundesregierung an die Türkei geliefert wurden. Und aktuell sind es deutsche Waffen, die von der Türkei bei der Besatzung Nordsyriens verwendet werden. Dieser Politik muss ein Ende gesetzt werden“, heißt es. Der Volksrat der Aramäer fordert das Ende der „Interessenpolitik“ mit der Regierung in Ankara und die Einstellung der Verfahren gegen seine Mitglieder.