Zahlreiche Anwält:innen in der Türkei haben wegen der Erdbebenkatastrophe Anzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und etliche weitere Amtsträger eingereicht. Dem Präsidenten, Ministern, Gouverneuren und Bauunternehmen werfen sie etwa vorsätzliche sowie fahrlässige Tötung und Amtsmissbrauch, Ausschreibungsmanipulation und Beweisvernichtung vor, wie aus der Strafanzeige der Initiative „Bürgernahe Anwälte“ hervorgeht.
„Erdoğan verantwortlich für den Tod von mehr als 36.000 Menschen“
In dem Strafantrag wird Erdoğan vorgeworfen, verantwortlich für den Tod von mehr als 36.000 Menschen zu sein. Es heißt: „Er ist unmittelbar für die Zerstörung und den Tod verantwortlich. Am 6. Februar 2023 hat er als Oberbefehlshaber den türkischen Streitkräften keine sofortigen Anweisungen gegeben und durch diese Verzögerung die Zahl der Toten unter den Trümmern erhöht. Trotz der Warnungen von Dutzenden oder gar Hunderten von Wissenschaftlern traf er nicht die notwendigen Vorbereitungen für eine solche Zerstörung. Stattdessen hat er 13 Flugzeuge für sich gekauft. Deren Wert beträgt über eine Milliarde Dollar. Er hat auch drei Paläste gebaut. Deren Gesamtwert liegt bei mindestens vier Milliarden Dollar.“
„Sie haben mit Bauamnestien verrottete Häuser in Särge verwandelt“
Im Aufruf zur Unterzeichnung der Anzeige, die bisher von 61 Anwält:innen unterschrieben wurde, heißt es: „Die wahren Schuldigen an dieser Katastrophe sind jedoch diejenigen, die die von Wissenschaftlern erstellten Berichte ignoriert und keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, die mit Bauamnestien verrottete Häuser in Särge verwandelt haben, die Such- und Rettungsteams daran gehindert haben, in das Katastrophengebiet vorzudringen und dafür gesorgt haben, dass noch lebende Menschen unter den Trümmern um Hilfe schreiend starben, die Hilfe blockiert und die Menschen beschimpft haben, die versuchten, ihre Probleme zu schildern. Deshalb werden wir in unserer Strafanzeige alle politischen Beamten, Minister, Gouverneure und Bauunternehmer von oben bis unten anklagen. Dieses Land braucht mehr denn je sensible, furchtlose und mutige Anwältinnen und Anwälte.“
„Die Regierung ist für die hohe Opferzahl verantwortlich“
Einer der Initiatoren der Initiative ist der Anwalt Hüseyin Cimşit. Er macht die Regierung für die hohen Opferzahlen verantwortlich und fordert ihren Rücktritt. Cimşit weist darauf hin, dass viele Wissenschaftler:innen seit Jahren davor warnten, dass die Verwerfungslinie im Erdbebengebiet aufbrechen wird. Er sagt: „Wer ist denn seit 20 Jahren an der Regierung? Erdoğan. Präsident Erdoğan sagt jeden Tag ‚Ich bin das Staatsoberhaupt, ich bin der Oberbefehlshaber‘. Aber was hat er getan, um die Katastrophe zu verhindern? Er hat rein gar nichts getan. Im Gegenteil, er hat illegale Strukturen mit dem Planfeststellungsbeschluss legalisiert und damit Geld verdient.“ Cimşit unterstreicht, dass das Regime der Ingenieurskammer (TMMOB) die Befugnis zur Kontrolle von Gebäuden entzogen hat, und klagt an: „Es gibt keine Kontrolle mehr. Wer ist denn hier verantwortlich? Natürlich ist die Regierung verantwortlich, aber sie übernimmt in keiner Weise Verantwortung. Es gibt ein großes Erdbeben, aber die Armee wird nicht zur Hilfe gerufen. Obendrein greift die Regierung die Bürger an, und beschimpft sie als ‚unehrenhaft‘. Genug ist genug.“
„Verfahren wegen fahrlässiger Tötung sofort einleiten“
Der Anwalt fordert die sofortige Einleitung eines Verfahrens wegen „fahrlässiger Tötung“ und entsprechende gerichtliche Kontrollmaßnahmen gegen die Beschuldigten, wegen der hohen Fluchtgefahr der Angeklagten im Angesicht der Höhe einer möglichen Strafe im Falle einer Verurteilung. Die Anzeige kann als ein symbolischer Akt begriffen werden. Aussicht auf Erfolg besteht vor der vom Regime kontrollierten Justiz trotz erdrückender Beweislast nicht.
Neoliberalismus und antikurdischer Rassismus machten die Katastrophe zum Verbrechen
Die Ursachen für die hohe Opferzahl bei den Erdbeben vom 6. Februar liegen nicht nur in der Gewalt des Bebens, sondern vor allem in der neoliberalen Baupolitik und dem türkischen Kolonialismus in Nordkurdistan begründet. So veruntreute das Regime die seit 1999 eingezogene Erdbebenhilfe, errichtete Flughäfen, Krankenhäuser und andere öffentliche Gebäude sowie staatliche Wohnsiedlungen ohne jegliche Kontrolle an Stellen, die Erdbeben gegenüber besonders exponiert waren. In Nordkurdistan sind insbesondere auch die Gebäude der staatlichen Baubehörde TOKI betroffen. Nach der Zerstörung der Altstädte im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in den Jahren 2015/2016 wurden große TOKI-Siedlungen hochgezogen, die aufgrund ihrer Struktur als Wohnblocks und Hochhäuser extrem anfällig für Erdbeben sind. So handelt es sich offenbar bei der Mehrheit der über 5.000 eingestürzten Gebäuden um sogenannte TOKI-Wohnblöcke. Diese angeblichen „Investitionen“ in die kurdische Region erweisen sich als Todesfalle für die Menschen.
Korruption, um das Regime und seine Anhänger reich zu machen
Das AKP/MHP-Regime unterstützt Bauunternehmer aus ihrem Umfeld mit öffentlichen Aufträgen und mangelnder Baukontrolle. Selbst der Palast des Regimechefs ist ein illegaler Bau im Umweltschutzgebiet. Gleichzeitig erließ das Regime immer wieder als Wahlkampfgeschenke Bauamnestien. Zuletzt wurden im Jahr 2018 als Wahlkampfgeschenk der AKP 5.848.927 Wohnungen in der Türkei und Nordkurdistan legalisiert. Insgesamt handelte es sich sogar um 7.085.969 Gebäude. Gleichzeitig spülten die Bauamnestien Milliarden in die Kassen des Regimes, da eine Legalisierung eines illegalen Baus gegen eine Geldzahlung erfolgte. Dabei wurde die Prüfung der Stabilität der Gebäude den Antragstellern überlassen.
Warnungen ignoriert
Währenddessen wurden auch konkrete Warnungen vor dem bevorstehenden Erdbeben bewusst ignoriert. So erklärte der Geologe Naci Görür im türkischen Fernsehen unter Tränen, jeder vernünftige Geologe in der Türkei, jeder Geophysiker habe von der großen Gefahr in Gurgum (tr. Maraş) gewusst und davor gewarnt. Görür hatte seit drei Jahren die Regierung auf der Grundlage von Daten vorheriger Beben vergeblich vor dem großen Erdbeben mit Epizentrum in Gurgum gewarnt. Drei Tage vor dem Beben hatte er nochmals die akute Gefahr betont. Seine Warnungen waren vergebens. Er sagt: „Nie hat einer auch nur gefragt, was passieren kann und was man dagegen unternehmen kann – nichts.“