Der Demokratische Autonomierat Şengals (MXDŞ) lädt regelmäßig internationale Delegationen ein, die Region zu besuchen, an den Gedenkveranstaltungen für den Genozid 2014 teilzunehmen und in einen konstruktiven Dialog zu kommen. Eine vom ezidischen Sender Çira TV organisierte Gruppe aus Deutschland wollte dieser Einladung im Juli vergangenen Jahres folgen. Am Münchner Flughafen wurde sie jedoch von der Bundespolizei festgesetzt und mit einer 30-tägigen Ausreisesperre belegt (ANF berichtete). Gegen dieses Vorgehen will die Gruppe nun eine Feststellungsklage einreichen. In einer schriftlichen Stellungnahme äußerte sie sich insbesondere zu den Hintergründen und Motiven der geplanten Delegation.
Von Şengal lernen
Die Gruppe habe den Besuch im letzten Jahr aus mehrere Gründen realisieren wollen. Sie empfänden es als ihre Verantwortung als Menschen, wachsam zu sein, um eine Wiederholung der Massaker zu verhindern. Wichtig sei ihnen auch, ihre Solidarität und ihr Mitgefühl mit der ezidischen Gemeinschaft deutlich zum Ausdruck zu bringen. Die Teilnehmenden betonten, dass sie aber insbesondere von den Menschen vor Ort, und vor allem von den Frauen, haben lernen wollen: „Şengal ist ein Symbol des Widerstands gegen Genozid und patriarchale Gewalt. Dort geschah nicht nur ein brutaler Völkermord, sondern auch eine historische Wende: Die Menschen nahmen ihr Schicksal in die eigenen Hände, bauten ein System des Demokratischen Konföderalismus auf – ein radikales Modell der Selbstverwaltung, das auf Basisdemokratie, Frauenbefreiung und kollektiver Verantwortung basiert.
Widerstand und Selbstverwaltung gegen Patriarchat und Gewalt
Gleichzeitig schufen sie Strukturen der Selbstverteidigung, die es ermöglichen, sich gegen Unterdrückung, Femizid und Genozid zu wehren. Die Lehre aus Şengal ist klar: Patriarchale Gewalt, die in ihrer extremsten Form Leben zerstört und Unterdrückung produziert, kann nur durch Selbstorganisation und radikalen Widerstand überwunden werden.“
Diese Kämpfe, so die Stellungnahme, seien nicht isoliert, sondern zeigten auch für Deutschland die Notwendigkeit des Aufbaus einer gesellschaftlichen Kraft der Hoffnung und des Schutzes auf, die unabhängig von Staaten sein müsse, welche die Gewalt und Unterdrückung immer wieder reproduzierten.
Patriarchat als globales Problem
Weltweit steigen die Zahlen von Frauen, die in Kriegen ermordet werden oder sexualisierte Gewalt erfahren. Auch in Deutschland werde patriarchale Gewalt täglich sichtbarer steht in der Stellungnahme mit Bezug auf weltweit steigende Femizid-Zahlen. Für die Gruppe steht fest, dass es für sie aus aktivistischer Perspektive essentiell sei, von den Menschen in Şengal zu lernen, wie Selbstverteidigung und Selbstverwaltung gegen Genozid und Femizid funktionieren könnten.
„Die deutsche Heuchelei ist offenkundig“
Weiter erklärt die Delegation, dass sie insbesondere die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Türkei als aktive Mitwirkung an der Unterdrückung der Ezid:innen in Şengal bewertet: „Waffenlieferungen an die Türkei und rassistische Deals (z.B. EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen) mit dem Erdoğan-Regime, das seit Jahren Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, zeigen die Verstrickung der deutschen Regierung. Seit dem 23. Oktober haben sich die Angriffe auf kurdische Regionen und Şengal verstärkt – unterstützt durch deutsche Waffen. Die deutsche Heuchelei ist offenkundig: Während die Bundesregierung den Genozid in Şengal offiziell anerkennt, verweigert sie die Anerkennung der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Menschen vor Ort.“
Gefahr der Vernichtung
Die Praxis der deutschen Bundesregierung Waffen an Staaten wie die Türkei oder Israel zu liefern, obwohl diese bekanntermaßen Menschenrechtsverletzungen begingen sehen die Klagenden als Unterstützung der Verbrechen. Insbesondere kritisieren sie in diesem Zusammenhang auch die Forderung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, die kurdischen Kräfte in Nord- und Ostsyrien sollten sich entwaffnen: „Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den türkischen Staat und islamistische Milizen, die gezielt gegen die kurdische Bevölkerung vorgehen, würde eine solche Entwaffnung die Kurd:innen ihrer einzigen Mittel zur Selbstverteidigung berauben. Diese Forderung ignoriert die historische und gegenwärtige Realität, in der die Kurd:innen immer wieder gezwungen waren, für ihr Überleben und ihre Rechte zu kämpfen. Sie läuft darauf hinaus, eine ohnehin marginalisierte und bedrohte Gemeinschaft der Vernichtung preiszugeben.“
Ein Blick auf die aktuelle Situation der Ezid:innen
Die schriftliche Stellungnahme der Delegationsgruppe umfasst auch eine Einordnung der aktuellen Situation der Ezid:innen im Nahen Osten. Es wird analysiert, dass der vor über zehn Jahren begonnene Genozid an den Ezid:innen bis heute anhalte. Als Anhaltspunkt hierfür wird einerseits benannt, dass noch immer zehntausende Ezid:innen als Binnenflüchtlinge unter erbärmlichen Umständen in Camps im Irak und der Kurdistan-Region des Irak leben. Andererseits werde in den Gebieten die Verfolgung der Glaubensgemeinschaft innerhalb der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung fortgesetzt.
Hetze gegen ezidische Bevölkerung
Im August 2024 waren erneut hunderte ezidische Familien zu Flucht gezwungen worden: Einige Imame hatten während der Freitagsgebete in Moscheen sowie in sozialen Medien Hetzreden gegen die Ezid:innen gehalten und zu ihrer Verfolgung aufgerufen (ANF berichtete). Diese Fluchtbewegung umfasste Menschen, die ursprünglich nach den Angriffen des sogenannten Islamischen Staats am 3. August 2014 aus Şengal geflüchtet waren und seither unter prekären Bedingungen in Lagern in den südkurdischen Orten Duhok und Zaxo lebten. Viele mussten bei ihrer erneuten Flucht sämtliche Besitztümer zurücklassen, als sie panisch die Lager verließen.
Internationale Ignoranz
Im Zusammenhang mit der Fortdauer des Genozids betont die Delegation besonders, dass kontinuierlich türkische Luftangriffe auf die ezidischen Siedlungsgebiete in Şengal stattfinden. Die Angriffe zielen einerseits auf Stellungen der nach dem Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft gegründeten Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ). So wurden am 24. und 25. Oktober vergangenen Jahres sechs Kämpfer der Verteidigungskräfte YBŞ getötet und vier verletzt, als türkische Kampfjets und Drohnen das Gebiet bombardierten (ANF berichtete). Andererseits würden auch zivile Wohnhäuser, heilige Stätten und Wassertanks gezielt mit Bomben belegt. Die internationale Gemeinschaft ignoriere den Terror der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung.
„Es gab zahlreiche Warnungen“
Aus ihren Beobachtungen der Situation im Nahen Osten zieht die Delegation einen klaren Schluss: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese dschihadistischen Kräfte ihre wahre Absicht offenlegen und einen weiteren Völkermord in Şengal oder Efrîn an den Ezid:innen begehen. Bereits 2014 hat die Weltgemeinschaft tatenlos zugesehen, obwohl es zahlreiche Warnungen gab – sowohl durch die ezidische Gemeinschaft als auch durch die kurdische Freiheitsbewegung.“
Wiedererstarken dschihadistischer Kräfte
Diese Aussage bezieht sich auf die Analyse der Gruppe, die aktuelle Lage in Syrien und im Irak sei durch ein erneutes Erstarken dschihadistischer Kräfte, allen voran des selbsternannten Islamischen Staates geprägt. Dies birge zum einen die Gefahr eines erneuten Völkermords an der Glaubensgemeinschaft der Ezid:innen in Şengal. Zum anderen die Gefahr der Fortsetzung der Diskriminierung im Norden Syriens hinsichtlich der anhaltenden Entwicklungen: Aufgrund der türkischen Invasion 2018 in Efrîn waren über 200.000 Menschen in die Region Şehba geflohen, unter ihnen viele Ezid:innen. Im Zuge der Machtergreifung der von der Türkei in Idlib aufgerüsteten Terrormiliz HTS ab dem 27. November, besetzte die türkische Proxymiliz „Syrische Nationalarmee“ (SNA) am 2. Dezember Şehba sowie die Stadt Tel Rifat (Tall Rifaat). Die Vertriebenen aus Efrîn mussten zum zweiten Mal fliehen (ANF berichtete).
Zukunftsperspektiven unter HTS-Herrschaft
Neben der Bedrohung durch die SNA im Norden Syriens, gilt es auch die Zukunftsperspektiven unter HTS-Herrschaft richtig einzuschätzen. In der Stellungnahme heißt es hierzu, dass der gesamten Weltgemeinschaft klar sei, dass die HTS eine islamistische Terrororganisation darstelle. Sie entsprang Al-Qaida im Irak und sei für einen Terroranschlag in Şengal im Jahr 2007 verantwortlich, bei dem mehr als 700 Menschen getötet worden seien.
„Hoffnung auf eine friedliche und gerechte Welt“
Abschließend wird in der Stellungnahme ein klares Fazit gezogen: „Wir möchten verstehen, wie der Genozid 2014 durch den sogenannten IS überhaupt erst möglich war und welche Rolle internationale Mächte – auch Deutschland – dabei spielten. Şengal zeigt uns, wie eine radikale Alternative zur Unterdrückung aussehen kann und gibt Hoffnung auf eine friedlichere, gerechtere Welt. Die Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen und der Austausch mit den Menschen vor Ort ist für uns nicht nur ein Recht, sondern eine Verpflichtung.
„Solidarität ist unsere Waffe“
Doch die Bundesregierung stellt sich uns in den Weg: Mit einem Ausreiseverbot sollen wir daran gehindert werden, Solidarität zu üben und die systematische Unterdrückung durch Staaten zu hinterfragen. Wir sagen: Die Gefahr besteht nicht darin, nach Şengal zu reisen. Die Gefahr besteht darin, sich auf Staaten zu verlassen, die ihre Macht auf Unterdrückung und Gewalt gründen. Deshalb klagen wir gegen das Ausreiseverbot. Denn der Aufbau von Strukturen, die Schutz, Frieden und Hoffnung ermöglichen, ist der einzige Weg, Genozide und Femizide langfristig zu verhindern – ob in Şengal, Palästina oder hier in Deutschland. Solidarität ist nicht nur eine Option, sie ist unsere Waffe gegen das globale System der Unterdrückung.“