Özgür A. gibt persönliche Erklärung ab

Bei dem gestrigen Verhandlungstermin vor dem OLG Koblenz hat Özgür A. zum ersten Mal vor Gericht selbst das Wort ergriffen und eine Erklärung abgegeben. Die Befragung eines weiteren BKA-Beamten bestätigte die Oberflächlichkeit der Ermittlungen.

Am Donnerstag fand vor der Staatsschutzkammer am Oberlandesgericht Koblenz der fünfte Verhandlungstag im §129b-Verfahren gegen Özgür A. statt. Dabei konnte der im April vergangenen Jahres verhaftete Kurde auch seine lange erwartete Erklärung abgeben. Solidarische Prozessbeobachter:innen fassten die Ereignisse des Prozesstages für ANF zusammen.

Bevor Özgür A. seine Erklärung abgeben konnte, wurde zunächst ein weiterer Zeuge vernommen, ein BKA-Beamter. Die Befragung dieses Beamten zeigte erneut, wie oberflächlich die Ermittlungen der Behörden laufen, auf deren Erkenntnisse sich Prozesse wie dieser und die Repression gegen Kurd:innen generell stützen. Wie bereits seine Vorgänger in ihren Aussagen darstellten, gab auch dieser Beamte an, dass es keine festen Qualitätskriterien zur Überprüfung der Quellen gibt. Er selbst spreche kein Wort Türkisch und könne beispielsweise Übersetzungsfehler oder Falschmeldungen nicht überprüfen.

Nach der Entlassung des Zeugens folgte eine kurze Pause, bei der sich der gut gefüllte Gerichtssaal gemeinsam auf die Worte von Özgür A. freute. Es war das erste Mal seit dem Prozessbeginn am 28. November 2022, dass er selbst ausführlich vor Gericht das Wort ergriff.

Özgür A. schildert die Geschichte der Kurd:innen und seine Biografie

In seiner Erklärung beschreibt er sein Leben und seine Beweggründe, sich politisch zu engagieren. Özgür A. nutzt die Einlassung als Lehrstunde in Sachen kurdischer Geschichte für das Gericht und die Prozessbeteiligten. Wenn in Deutschland über die Verfolgung der Kurd:innen gesprochen wird, geschieht dies oft abstrakt oder es wird auf die aktuelle Situation, maximal die letzten Jahrzehnte, eventuell noch auf den IS-Terror bezogen. Damit wird jedoch nur ein kleiner Ausschnitt aus der kurdischen Geschichte beleuchtet, was dem kurdischen Volk und seiner Lage nicht gerecht wird.

Eindrucksvoll schildert er die kurdische Geschichte, vor allem nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der Zusicherung eines eigenen kurdischen Staates durch die Siegermächte (1920). Der türkische Staat baute jedoch schon in dieser Zeit seine antikurdische Militärmacht so weit aus, dass Aufstände regelmäßig niedergeschlagen wurden.

Seine Großeltern erlebten das Massaker von Dersim

Özgür A.s persönliche Biografie steht dabei im Zusammenhang mit einer der schwärzesten und traurigsten Ereignisse in der Geschichte Kurdistans: dem Dersim-Massaker. Seine Familie stammt aus Dersim, wo seine Großeltern wie viele andere den Aufstand gegen das türkische Regime 1937/1938 direkt miterlebten. Die detailreichen Erzählungen über Gewalttaten der türkischen Armee sorgen für Betroffenheit und Entsetzen bei den Unterstützer:innen von Özgür A.

Dersim und der dort verübte Genozid an den Kurd:innen sind ein zentraler Punkt in der Einlassung von ihm. Die Flucht der Familie nach Istanbul, die Unterdrückung von Sprache und Kultur, die Repression und Kriminalisierung kurdischen Lebens treiben Özgür an, sich zu politisieren.

Özgür A., 1974 geboren, wächst in einer Familie auf, welche ihm Entschlossenheit und Weitsicht vermittelt. Er liest viel, bildet sich und findet als Jugendlicher seine kurdische Identität. Nach dem Abitur beschließt er, gemeinsam mit vier Freunden, welche alle aus Dersim stammen, Verantwortung zu übernehmen und für Gerechtigkeit für das kurdische Volk aktiv zu werden. Insbesondere der Kampf der kurdischen Frauen inspiriert ihn und er führt aus, dass der Ausruf „Jin Jiyan Azadî“, welcher momentan in aller Munde ist, eine der zentralen Säulen Abdullah Öcalans für die Befreiung der Kurd:innen darstellt. Gemeinsam gehen die Freunde in die Berge. Sie suchen und finden ihren Platz an der Seite der PKK-Kämpfer:innen.

Deutsche Sicherheitsbehörden als verlängerter Arm des türkischen Staates

Der türkische Staat überzieht ihn dafür bereits frühzeitig mit einer drastischen Repression, welche in Folter, fünfjähriger Haft sowie massiven Morddrohungen münden.

Überzeugt von der Notwendigkeit der Sache, wendet er sich nicht wie vom türkischen Staat gefordert von der Bewegung ab, sondern flieht nach Deutschland und beantragt hier politisches Asyl. Sein Ziel ist es, seine Identität und Kultur frei von Verboten und Gewalt friedlich zu leben.

Doch auch hier übt der türkische Staat weiter Repression gegen Özgür A. aus. Durch deutsche Geheimdienste und Sicherheitskräfte wird er bei seiner demokratischen Arbeit behindert, immer wieder kriminalisiert und zuletzt im April 2022 festgenommen und in Isolationshaft genommen.

Respektvoller Applaus im Gerichtssaal

Die Biografie von Özgür A. steht sinnbildlich für den Lebensweg von zigtausenden Kurd:innen auf der ganzen Welt, die nicht bereit sind, ihre Unterdrückung hinzunehmen. Er beendete seine Einlassung mit dem Ruf nach Freiheit für alle Kurd:innen.

Im Gerichtssaal herrschte für einen kurzen Moment eine euphorische Stimmung. Mit einem sehr langen Applaus wurde Solidarität und Respekt für Özgür A. und seine Worte zum Ausdruck gebracht.

Der nächste Verhandlungstermin ist für den 26. Januar um 10.00 Uhr angesetzt.