ÖHD: Mit Verhaftungen sollen Stimmen gegen die AKP verhindert werden

Mit den Massenfestnahmen im Vorfeld der Wahlen in der Türkei sollen oppositionelle Stimmen verhindert werden. Der Anwaltsverein ÖHD weist auf die Einschränkung des Wahlrechts und entsprechende Urteile des EGMR hin.

Nach Angaben des türkischen Justizministeriums befanden sich am 1. März 349.893 Untersuchungs- und Strafgefangene in den 399 Haftanstalten in der Türkei. Bei den Wahlen am 14. Mai werden jedoch nur 41.614 Inhaftierte wählen können, weil laut Verfassung nur wegen „fahrlässiger Vergehen“ Verurteilte wahlberechtigt sind.

Im Vorfeld der Wahlen sind in den vergangenen Wochen Hunderte kurdische und linke Oppositionelle festgenommen worden, über sechzig Personen wurden verhaftet. Die Istanbuler Gefängniskommission des Anwaltsvereins ÖHD hat angesichts dieser Situation gegenüber ANF eine Einschätzung zu dem Wahlverfahren und der aktuellen Lage in den Gefängnissen abgegeben.

Der ÖHD Istanbul erklärt, dass die notwendigen Maßnahmen für die Sicherheit der Wahlen, die Auszählung und die Stimmabgabe in den Gefängnissen vom Hohen Wahlausschuss (YSK) festgelegt und alle Verfahren in diesem Zusammenhang unter der Aufsicht des zuständigen Richters durchgeführt werden. Die Kommission weist darauf hin, dass die politischen Parteien Beobachter:innen zu den Wahlurnen entsenden und freiwillige Anwältinnen und Anwälte während der Wahlen in den Gefängnissen anwesend sein können, um mögliche Rechtsverletzungen zu verhindern. Die Wahlzettel werden nach Abschluss der Stimmabgabe in Begleitung von Beamten an den YSK an dem jeweiligen Standort übermittelt und dort ausgezählt.

Änderung des Wahlgesetzes führt zu Rechtsverletzungen

Kurz vor den Kommunalwahlen 2019 wurde das Wahlgesetz geändert. Die Gefängniskommission des ÖHD Istanbul erinnert daran, dass mit dieser Änderung die Stimmen der wahlberechtigten Gefangenen nur noch für die Orte gültig sind, an denen sie mit Wohnsitz gemeldet sind:

„So konnte beispielsweise Selahattin Demirtaş nicht für den Stadtbezirk Edirne wählen, weil er in Diyarbakır als Wähler registriert war. Das stand im Zusammenhang mit der Änderung, die der YSK kurz vor den Kommunalwahlen 2019 vorgenommen hat. Mit dieser Änderung wurde das Wahlrecht nur für diejenigen anerkannt, die in der Region, in der sich ihr Wohnsitz befindet, inhaftiert sind. Wir sehen, dass die von der Verfassung garantierten Rechte willkürlich missachtet werden können und der YSK eher wie ein Notar für die Regierung agiert. Mit der Entscheidung, das Wahlrecht einzuschränken, hat der YSK in den Wesensgehalt des Wahlrechts eingegriffen.

Das Wahlrecht ist ein wichtiger Bereich der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit in einer demokratischen Rechtsgesellschaft. Nach türkischem Recht gilt eine verurteilte Person als ,eingeschränkt'. In Anbetracht der Tatsache, dass Artikel 67 der Verfassung von 1982 das Wahlrecht garantiert, muss jedoch folgende Situation in Betracht gezogen werden: In seinem Urteil aus dem Jahr 2014 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Vereinigte Königreich gegen Artikel 3 des ersten Zusatzprotokolls verstößt, weil es Verurteilten in Gefängnissen kein Wahlrecht einräumt und keine diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen trifft. Auch in der Entscheidung Resul Çetin gegen die Türkei aus dem Jahr 2022 entschied der EGMR, dass Resul Çetins Rechte verletzt wurden, weil er aufgrund seiner Verurteilung bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 und vom 1. November 2015 nicht wählen konnte. In diesem Fall ist es offensichtlich, dass die Türkei, die Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, das Wahlrecht von Verurteilten durch die Existenz von Vorschriften, die das Wahlrecht einschränken und verhindern, verletzt."

Stimmen gegen die AKP sollen verhindert werden

Die ÖHD-Kommission bezeichnet die Massenfestnahmen im Vorfeld der Wahlen als Versuch, Oppositionelle an der Stimmabgabe zu hindern. Für die verhafteten Personen gebe es zwar kein rechtliches Hindernis für die Stimmabgabe, indirekt werden sie jedoch daran gehindert, indem sie kurz vor der Wahl in andere Gefängnisse verlegt werden. Das treffe auch auf die kürzlich Verhafteten zu. So seien beispielsweise die am 25. April in Amed (tr. Diyarbakir) festgenommenen Personen in verschiedene Gefängnisse gebracht worden: „Wie soll eine Person, die in einer anderen Provinz inhaftiert ist und in Amed festgenommen wurde, wählen können? In diesem Fall muss das Ministerium sicherstellen, dass die Personen an den Adressen wählen, an denen sie registriert sind. Derartige Anträge der Inhaftierten werden jedoch wegen Personalmangel abgelehnt. In den letzten Tagen haben wir beobachtet, dass politische Gefangene in verschiedene Gefängnisse verlegt wurden. Dabei handelt es sich um eine bewusste Praxis. Das Ziel der Regierung ist es, zu verhindern, dass auch nur eine einzige Stimme gegen sie abgegeben wird."