Die Kandidatur des Ehrenvorsitzenden der Europäischen Konföderation der Alevitischen Vereine (AABK), Turgut Öker, für die HDP in Istanbul bei den Parlamentswahlen am 24. Juni ist vom Hohen Wahlausschuss (YSK) abgelehnt worden. Öker bezeichnete die Annullierung als „eine Operation des Palasts und des tiefen Staates“ welche, „nicht als persönliche Angelegenheit, sondern als Botschaft an die Gesellschaft verstanden“ werden müsse. Er rief alle Alevitinnen und Aleviten zur Wahl der HDP auf, um im Parlament vertreten zu sein.
Wir haben in Köln ein Interview mit Turgut Öker geführt:
Warum wurde Ihre Kandidatur durch den Hohen Wahlausschuss annulliert?
Der Hohe Wahlausschuss hat ein Veto gegen meine Kandidatur eingelegt. Als Vorwand galt, dass ich einmal verurteilt worden bin. Die Strafe in meinem Führungszeugnis bezieht sich auf ein Ereignis von vor zwei Jahren. Wir wollten mit allen alevitischen Organisationen gemeinsam in Maraş den Opfern des Massakers von 1978 gedenken. Diese Gedenkveranstaltung wurde angegriffen. Es kam zu Polizeigewalt. Ich hatte dort eine Rede gehalten. In meiner Rede sagte ich: „Was ist das für eine barbarische Schurkerei? Wir sind hier, um an ein Massaker zu erinnern, unseren Gefallenen zu gedenken und Nelken niederzulegen. Ihr als Staatsvertreter konntet dieses Massaker nicht verhindern, ihr wart Komplizen und nun geht ihr gegen das Gedenken vor. Was ist das für eine Mentalität?“ Ich hatte damals zum Republikspräsidenten gesagt: „Du kommst aus derselben historischen Strömung und übst die gleiche Unterdrückung, die gleiche Grausamkeit wie Yezid aus. Genauso wie der Herrscher Yezid heute von der Menschheit verflucht wird, wird das, was du tust, verflucht werden. Du bist der Yezid von heute.“ Auf diese Weise habe ich meine Gedanken zum Ausdruck gebracht. Deswegen wurde ich zu einer Haftstrafe von elf Monaten und 20 Tagen verurteilt.
Jeder, der sich in der Türkei mit Politik beschäftigt, weiß, dass eine Strafe von unter einem Jahr kein Hindernis für eine Kandidatur darstellt. Ich bin zu elf Monaten und 20 Tagen Haftstrafe verurteilt worden. Bis zum letzten Tag war nicht die Rede davon, dass der Antrag zurückgewiesen würde. Dabei handelt es sich um eine politische Entscheidung. Ich bin verurteilt worden, weil ich Verantwortung für die alevitische Sache übernehme, weil ich gegen das Vergessen eines Massakers eintrete und Wachsamkeit fordere, damit kein neues Massaker geschieht. Unser Glaube, unsere alevitische Gesellschaft wird bestraft. Sogar das Gedenken an die Gefallenen wird unterbunden.
Besteht Angst davor, dass die HDP und die Aleviten zusammenkommen?
Die HDP stellt eine Rettung für alle Unterdrückten dar. Für die alevitische, kurdische, türkische, lasische, tscherkessische, armenische, assyrisch-aramäische und alle anderen Bevölkerungsgruppen ist die HDP eine Befreiung. In ihr treffen alle Komponenten der Gesellschaft zusammen. Sie ist zu einer Hoffnung geworden. Für die Mentalität, mit der die Menschen in unserem Land seit Jahrhunderten getrennt und gegeneinander aufgehetzt werden, ist die HDP eine Bedrohung. Wenn wir uns alleine die vergangenen drei Jahre ansehen, dann sehen wir, dass diese Jahre voller Unterdrückung, voller Massaker gewesen sind. Die Ko-Vorsitzenden der Partei sind ins Gefängnis gesteckt worden. Der Präsidentschaftskandidat wird in Haft gehalten.
In diesem Sinne haben alevitische Bewegungen in Europa und der Türkei meine Kandidatur vollkommen unterstützt. Diese Unterstützung ist zu einer echten Akzeptanz unter den Alevitinnen und Aleviten geworden. Diejenigen, welche die HDP um jeden Preis unter der Wahlhürde halten wollen, haben entschieden, meine Kandidatur zu verhindern. Das darf aber nicht als meine persönliche Einschränkung, sondern als Botschaft an die Gesellschaft verstanden werden. Wir müssen ihr Ziel ins Gegenteil verkehren. Sie wollen erreichen, dass die HDP die Zehn-Prozent-Hürde nicht erreicht. Als Aleviten, als demokratische Kräfte, als Revolutionärinnen und Revolutionäre müssen wir unsere Unterstützung für die HDP vervielfachen. So können wir diese Machenschaften nichtig machen.
Vor einigen Tagen wurden die Strafen für einige inhaftierte Menschen aus HDP-Führungspositionen bestätigt. Auch Ihnen wurde die Kandidatur aberkannt. Ist dies Ihrer Meinung nach eine Strategie?
Das ist ein Skandal, eine zentral gefällte Entscheidung. Eigentlich handelt es sich bei so einer Operation um eine Operation des tiefen Staates. Dahinter steht der Palast. Um das zu wissen, ist es nicht nötig, die Dokumente zu kennen. Die Bestätigung der Urteile gegen viele Personen an einem Tag und die Aberkennung der Kandidaturen sind ein deutliches Zeichen dafür. Hunderte Verantwortliche und Tausende Mitglieder der HDP befinden sich in Haft, aber dennoch hat die Akzeptanz der HDP ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Deswegen werden wir von den Gerichtshöfen eines repressiven, unterdrückerischen Systems bedroht.
Dass die CHP keine linken oder alevitischen Kandidaten aufstellt, hat für Irritationen gesorgt. Wie bewerten Sie diese Tatsache?
Die CHP ist nicht mehr die Partei, wie wir sie einmal kennengelernt haben. So wie der Wahlausschuss meine Kandidatur annulliert hat, so hat die CHP diejenigen, die am Widerstand auf der Straße beteiligt waren, und hier waren es vor allem Alevitinnen und Aleviten, schon vorher ausgesiebt. Das gilt auch für solche, die vorher Abgeordnete der CHP waren, sie wurden einfach mehr aufgestellt. In den Reihen der CHP gibt es keine Angehörigen alevitischer Institutionen, welche diese auch vertreten könnten. Trotz allem müssen wir in dieser Phase die Machenschaften der Diktatur des Palasts durchkreuzen und in die Offensive gehen.
Das müssen wir unserer Bevölkerung erklären. Jeder muss verstehen, dass die HDP über die Hürde kommen muss, um diese Diktatur zu überwinden. Deshalb müssen wir die Arbeit, die wir investieren, verdoppeln. Wir brauchen diese Energie in der jetzigen Wahlkampfphase.
Wozu rufen Sie die alevitische Gesellschaft auf?
Ich möchte allen Alevitinnen und Aleviten auf der Welt folgendes sagen: Die alevitische Geschichte ist eine Geschichte der Massaker und der Schmerzen. Es geht jetzt nicht nur darum, Parlamentarier zu werden. Wir sind Menschen, die dies wissen. Das Parlament ist ein Mittel. Es ein wichtiges Mittel. Ich war nach den Wahlen vom 7. Juni vier Monate in diesem Parlament. Daher denke ich, es ist sehr wichtig, dass die Aleviten diese Plattform nutzen. Die alevitische Gesellschaft sollte ihre Stimme und ihre Grundsätze in den parlamentarischen Prozess einbringen. Ich wünsche mir, dass sie der Partei, die sie am besten vertritt, der HDP, ihre Unterstützung geben. Es muss alles getan werden, damit die Diktatur des Palasts beendet wird.