Politischer Vernichtungsfeldzug gegen Demokratie-Kräfte
Kaum keimen Hoffnungen auf einen Dialog zwischen dem inhaftierten Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, und dem türkischen Staat auf, zieht das Erdoğan-Regime die Repressionsschraube gegen die demokratische Opposition weiter an. Zum bislang letzten Schlag hatte es am Dienstag ausgeholt: Bei Polizeieinsätzen in zehn Provinzen des Landes wurden auf Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul über 50 Menschen unter Terrorvorwürfen festgenommen, insgesamt wurden 60 Haftbefehle erlassen. Unter den Festgenommenen befinden sich Mitglieder verschiedener Parteien, Medienschaffende und Künstler:innen. Sie sind weiterhin in Polizeihaft, die Akte ist mit einer Geheimhaltungsverfügung belegt.
HDK soll „Tarnorganisation“ sein
Im Zentrum des Verfahrens steht der Demokratische Kongress der Völker (HDK), eine Dachorganisation kurdischer, linker und sozialistischer Parteien sowie gesellschaftlicher Initiativen in der gesamten Türkei, die 2011 auf Initiative kurdischer Parteien gegründet wurde. Laut Berichten regierungsnaher Medien soll das Vorgehen nur Teil einer weitaus größeren Ermittlung gegen den HDK sein. Dieser stelle eine „legal anmutende Frontorganisation“ der PKK und eine „Alternativversammlung“ zum türkischen Parlament dar, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft.
Stadtkonsens angeblich Initiative der PKK
Die meisten Festgenommenen haben in der Vergangenheit an Aktivitäten und in den Strukturen des HDK mitgewirkt. Um das Gremium geht es auch bei einer Verhaftungswelle gegen CHP-Kommunalpolitiker in Istanbul, darunter zwei Vizebürgermeister. Insgesamt wurden zehn Personen verhaftet. Die Staatsanwaltschaft begründet dies mit Ermittlungen zum „Stadtkonsens“, einer Strategie der DEM-Partei und des HDK im vergangenen Kommunalwahlkampf. Auf dieser Basis wurden in zahlreichen Städten gemeinsame Kandidatenlisten erstellt. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die Initiative für diese Politik von der PKK ausgegangen sei. Überdies gibt es Berichte, wonach es sich nur um die erste Phase einer Operation mit bis zu 6.000 vermeintlichen Verdächtigen handeln könnte.
Cengiz Çiçek
KCK-Operationen 2.0?
Die DEM stellt das Vorgehen gegen den HDK in Zusammenhang mit der sich jüngst eröffnenden Möglichkeit eines Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK zur Lösung der kurdischen Frage. Der DEM-Abgeordnete Cengiz Çiçek, der bis November noch der Ko-Sprecher des HDK war, sieht in der aktuellen Repressionswelle eindeutige Parallelen zu früheren Vernichtungsfeldzügen gegen die kurdische Politik, die gleichlaufend zu Dialogphasen zwischen Staat und PKK stattfanden. „Während der Gespräche in Oslo zwischen 2009 und 2011 etwa und auch der Dialogphase von 2013 bis 2015 haben wir gesehen, wie sich Teile des Staatsapparats gegen eine Lösung verschworen haben.“ Ein Beispiel seien die sogenannten KCK-Operationen, bei denen rund 10.000 Menschen verhaftet wurden. „Nun, da wieder über eine Lösung der kurdischen Frage diskutiert wird, erleben wir erneut eine Eskalation der Repression.“
Klares Muster hinter Operationen
Laut Çiçek gehe es der Regierung darum, dass die gesamte organisierte Opposition in der Türkei unter die Walze der Repression gerät. Mit den Festnahmeoperationen versuche sie nicht nur, die Demokratie-Kräfte zu schwächen, sondern sie zu diskreditieren und wenn möglich zu zerschlagen. „Die Opposition wird kriminalisiert, um jegliche demokratische Alternative zu beseitigen. Die Festnahmeoperationen sind nicht willkürlich, sie folgen dem klaren Plan, den Feind in eine Ecke zu drängen und als kriminell darzustellen. Gleichzeitig versucht die Regierung, das gesellschaftliche Bündnis, das durch den Stadtkonsens und die Proteste gegen die Zwangsverwaltungen in oppositionsregierten Gemeinden entstanden ist, zu zerstören. Denn die Regierung sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Bedrohung ihrer Existenz an.“
Innenpolitische Frontbegradigung
Der DEM-Abgeordnete betont, dass die derzeitigen Festnahmewellen eine langfristige Strategie der Regierung sind, um die Kontrolle über die politische Landschaft zu behalten. „Es geht auch nicht nur um den HDK, sondern um alle sozialen und politischen Bewegungen, die sich für eine demokratische Türkei einsetzen. Die Regierung will sie als illegale Strukturen darstellen. Sie hat einen Großangriff auf den gesellschaftlichen Frieden gestartet“, sagt Çiçek und warnt davor, dass der Vorgang Teil einer noch autoritäreren Umgestaltung der politischen Ordnung sein könnte. „Wir haben es hier mit einer Logik zu tun, in der das Gesetz zu einem Spielzeug gemacht wird und es für politische Liquidierung genutzt wird. Eine Haltung, die das Wahlrecht nur für sich selbst will, verstoße gegen politische Gesetze und Moral. Kurd:innen und demokratischen Kräften werde es unmöglich gemacht, sich über die staatlichen Strukturen einzubringen. Dass die CHP in diese Operation einbezogen wird, bedeute, dass das Regime sowohl die soziale als auch die Opposition des Parteiensystems in dieselbe Feind-Kategorie einordnet.
„Wir werden weiterkämpfen!“
Trotz der Eskalation der Repression bekräftigt Cengiz Çiçek, dass die Opposition ihren Kampf für Demokratie und Freiheit fortsetzen wird: „Wir lassen uns nicht einschüchtern. Unser Einsatz für Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit wird weitergehen. Diese Angriffe werden uns nicht schwächen, sondern unsere Entschlossenheit stärken.“ Der Politiker ruft alle demokratischen Kräfte dazu auf, sich gegen die Kriminalisierung der Opposition zu wehren und die Einheit im Kampf für eine demokratische Türkei zu bewahren. „Diese Angriffe sind Teil eines größeren Plans: Sie wollen uns trennen, sie wollen uns schwächen. Doch unsere gemeinsame Vision von Frieden, Demokratie und Freiheit wird sich nicht zerstören lassen. Unser Kampf ist unser Fundament, und wir werden ihn mit aller Kraft fortsetzen.“
Titelbild: Öffentliche Presseerklärung gegen die Festnahmewellen im Land am Dienstag in Adana © MA