Verfassungsschutz: Was in die politische Agenda passt
Fakten lassen sich auch durch Weglassung verfälschen. - Sarya Taro kommentiert den Verfassungsschutzbericht 2023 aus kurdischer Perspektive.
Fakten lassen sich auch durch Weglassung verfälschen. - Sarya Taro kommentiert den Verfassungsschutzbericht 2023 aus kurdischer Perspektive.
Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2023 geben sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, besorgt. Beide verweisen auf die vor allem von Islamisten und Rechtsextremisten ausgehende Gefahr. Natürlich darf auch „der linke Rand“ nicht fehlen. Besonders auf das Aktionsbündnis Ende Gelände und den transnationalen BDS hat man es abgesehen. Wer die Nachrichtenlage und die Stimmung im Land auch nur ein bisschen verfolgt, ist nicht sonderlich überrascht.
Routinemäßig werden in dem 400 Seiten starken Bericht neben Analysen der „Bedrohungslage“ sämtliche Organisationen aufgeführt, in denen der deutsche Staat ein Gefährdungspotential sieht.
So erscheint im Kapitel „Auslandsbezogener Extremismus“ seit sehr vielen Jahren die – immer mit Gänsefüßchen apostrophierte – „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) als „Beobachtungsobjekt“. Vielleicht gilt die Aufnahme in den Katalog der „Gefährder“ ja lebenslänglich? Die Erkenntnisse, die da gesammelt werden, sind mehr oder weniger abgeschrieben aus den Vorjahren. Eher langweilig. Mag sein, dass im Einzelfall auch die Zeit für eine ausführliche Recherche fehlt …
Bescheinigt wird der PKK, sie sei die „weiterhin [...] mitgliederstärkste und schlagkräftigste Organisation im auslandsbezogenen Extremismus in Deutschland“. Genannt wird die Zahl von 15.000 „Anhängern“, dies wäre ein Zuwachs von 500 gegenüber dem Vorjahr. Wie man darauf kommt, bleibt das Geheimnis des Inlandsgeheimdienstes. Ebenso die Unterscheidung zwischen „Mitgliedern“ und „Anhängern“. Bei der zentralen Newroz-Kundgebung in Frankfurt sollen es 35.000 Teilnehmende gewesen sein. Jeder „Anhänger“ bringt also noch einen Nicht-Anhänger mit? Verwirrend.
Bei den weiteren „Erkenntnissen“ über die PKK fällt vor allem der fast bösartige Unterton auf. So wird tatsächlich behauptet, ein Spendenaufruf diene der PKK dazu, „die Opfer der Erdbebenkatastrophe für ihre Zwecke zu instrumentalisieren“. Das bedarf keiner weiteren Kommentierung. Es ist schlicht infam.
Fakten lassen sich aber auch durch Weglassung verfälschen. So wird zum Beispiel der Anschlag auf eine dem türkischen Innenministerium unterstehende Polizeibehörde im hochgesicherten Regierungsviertel in Ankara im Oktober 2023 erwähnt. Nicht erwähnt wird die gleichzeitig veröffentliche Erklärung der Guerilla, dass der Anschlag als Warnung an das Regime von AKP und MHP zu verstehen sei, das Menschenrechte mit Füßen tritt und unter anderem völkerrechtswidrig verbotene Chemiewaffen in Kurdistan einsetzt.
Stattdessen schreibt das BfV: „Die türkische Armee startete als Reaktion in der Nacht zum 2. Oktober 2023 eine Luftoffensive gegen Stellungen und Infrastruktur der Organisation im Irak.“ Man nennt dies wohl Täter-Opfer-Umkehr. Auch wenn die seit Jahren andauernden Kriegsverbrechen des türkischen Staates in den hiesigen Medien kaum Beachtung finden, könnte man erwarten, dass die Beschäftigten des Verfassungsschutzes, die regelmäßig die Veröffentlichungen der „PKK-nahen Medien“ verfolgen, zumindest Ursache und Wirkung korrekt darstellen. Dass die türkischen Angriffe nach dem Anschlag in Ankara vor allem der Zivilbevölkerung in Nordsyrien galten und Kriegsverbrechen waren, wird bewusst unterschlagen. Ein Großteil der lebenswichtigen Infrastruktur in der Region wurde innerhalb weniger Stunden beschädigt oder zerstört, es wurden Wohngebiete, Schulen, Kliniken und Versorgungsanlagen bombardiert.
Im Kapitel „Vernetzungen zur PKK und türkischen Linksextremisten“ erfährt man, dass seit 2013 (!) „70 Personen aus dem deutschen linksextremistischen Spektrum in den Südosten der Türkei, nach Nordsyrien oder den Nordirak ausgereist“ sein sollen. Zurückgeführt wird dies auf die „Rekrutierung für den Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten“ seitens der PKK. Wer käme auch auf die Idee, dass es Menschen gibt, die einen Freiheitskampf freiwillig und vor Ort unterstützen wollen? Ob sich die „rekrutierten Linksextremisten“ wirklich in der Rolle als quasi angeworbene Söldner sehen?
Immer wieder wird naserümpfend angemerkt, die PKK betreibe „Propaganda“. Könnte es sein, dass der Verfassungsschutz mit seiner kaum verhohlenen „Gegenpropaganda“ Munition liefern will wegen der anstehenden Klage gegen das seit 1993 bestehende Verbot der PKK?
Und wie wäre es angesichts der großen Besorgnis über Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus mit einer neuen Idee: Man gewinnt diejenigen, die innerhalb der Anti-IS-Koalition erfolgreich gegen islamistischen Terror kämpften, einfach als Bündnispartner? Vor gut zehn Jahren jedenfalls wurde die PKK für ihren Einsatz gegen den Dschihadismus gebraucht und gelobt. Mit den zigtausend Gefangenen von damals lässt man sie bis heute allein. Wäre es vielleicht an der Zeit, Frieden zu schließen mit der kurdischen Freiheitsbewegung? Sie anzuerkennen als Player im internationalen Kampf gegen den Islamismus? Auch wenn sich Nancy Faeser dann mit Außenministerin Baerbock anlegen müsste, die bekanntlich fest an der Seite der den IS-unterstützenden türkischen Regierung steht. Aber vielleicht kann die PKK ja Punkte sammeln in Bezug auf ihren Schwerpunkt Frauenbefreiung, da „feministische Außenpolitik“ bekanntlich ein Herzensanliegen der grünen Außenministerin ist …