Neues Leben am Cûdî

Petros Karatay ist der letzte noch in Silopiya in der Provinz Şirnex lebende Chaldäer. In den 80er Jahren wurde er ins Exil vertrieben. 2009 kehrte er zurück, um das kulturelle Erbe der Chaldäer zu sichern und sein zerstörtes Dorf wiederaufzubauen.

Nach offiziellen Angaben der türkischen Regierung wurden während des Krieges zwischen 1984 und 1999 etwa 350.000 Menschen aus 3.428 Dörfern in Nordkurdistan vertrieben. Diese Behauptung stellt allerdings eine beschönigende Untertreibung der tatsächlichen Gegebenheiten dar. Nach den Erhebungen von Nicht-Regierungsorganisationen wurden mehr als 3.700 Dörfer und Weiler geräumt. Die Zahl der Vertriebenen wird auf über drei Millionen Menschen geschätzt. Mit den Zwangsräumungen und der Zerstörung tausender Dörfer versuchte die türkische Regierung, die Unterstützungsstrukturen der kurdischen Freiheitsbewegung zu zerschlagen. Die Zivilbevölkerung in den umkämpften Regionen wurde vom Militär zum Feind erklärt und unmittelbares Objekt der Aufstandsbekämpfung.

Petros Karatay ist der letzte in Silopiya in der Provinz Şirnex (Şırnak) lebende Chaldäer. In den 1980er Jahren wurde er ins Exil nach Frankreich vertrieben. 2009 kehrte er in seine Heimat zurück, um das kulturelle Erbe der Chaldäer*innen zu sichern und sein zerstörtes Dorf wiederaufzubauen. Herbol (türkisch: Aksu), das Heimatdorf von Petros Karatay, liegt an den Ausläufern des Cûdî. Dem Berg, auf dem Noahs Arche gelandet sein soll.

4.000 Obstbäume gepflanzt

Karatay ist 63 Jahre alt. Als sich die türkische Regierung im Vorfeld der Entscheidung über die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen gegenüber den Vereinten Nationen und der EU verpflichtete, für die freiwillige Rückführung der Vertriebenen zu sorgen, entschieden sich Karatay und 27 christliche Exilfamilien, im Rahmen des „Rückkehr in die Dörfer“-Projektes in die Region zurückzugehen. Letztendlich waren es dann doch nur eine Handvoll, die es tatsächlich taten.

Seit Karatay wieder in Herbol ist, hat sich viel getan. 2010 begann er mit dem Häuserbau. Zwei der Gebäude sind fertiggestellt, drei weitere noch in der Bauphase. In dem nahegelegenen Wald, der vom türkischen Militär mehrere Male niedergebrannt wurde, hat der Hobbyimker rund 4.000 Obstbäume gepflanzt. Im Dorf legte Petros Karatay unzählige Gärten, Felder und Gemüsebeete an. Müde macht ihn die ganze Arbeit nicht, im Gegenteil. Fast jeden zweiten Tag nimmt er die mühsame Fahrt auf der rauen Straße nach Silopiya auf sich, um Baustoff und andere Utensilien zu besorgen.

Ein Leben am Cûdî

Von Herbol aus hat man eine prachtvolle Aussicht über die tiefen Täler und Schluchten des Cûdî.  Es ist der höchste Berg in der Provinz und hat vier Gipfel, die alle höher als 2.000 Meter sind. In den Sommermonaten gibt es häufig Besuch aus Europa, im Winter ist Petros Karatay fast immer allein im Dorf. Die kalte Jahreszeit verbrachte er in den vergangenen Jahren damit, sich für den Bau eines neuen Friedhofs einzusetzen. Eine Bergbaugesellschaft hatte bei einem Aushub den Friedhof des Dorfes weit unter die Erde vergraben. Mit viel Mühe und Geduld trug Karatay die Erde wieder ab und legte die verschütteten Gräber frei. Die sterblichen Überreste der ehemaligen Bewohner*innen von Herbol wurden anschließend auf dem neuen Friedhof bestattet.

Forderung nach Mindestvoraussetzungen für Rückkehr

Als Petros Karatay mit anderen Vertriebenen vor neun Jahren zum Wiederaufbau in sein Dorf zurückkehrte, seien ihre Wünsche und Forderungen von den Behörden begrüßt worden. Mittlerweile sind sie wieder Repressionen seitens der lokalen Behörden ausgesetzt. Aber unabhängig davon fehlten bisher die von Vertriebenen geforderten Mindestvoraussetzungen für eine Rückkehr. Zwar treibe die Verantwortung der eigenen Tradition gegenüber viele Exil-Chaldäer*innen dazu, in die Region zurückzukehren, doch gäbe es keine ausreichende Lebenssicherheit. Damit Perspektiven für die Vertriebenen vorhanden seien, müsse der Staat noch einiges tun, sagt Karatay.

Herbol als Beispiel für die gesamte Region

„Wir wollen ein Dorf mit einem hohen Lebensstandard schaffen und damit ein Beispiel für die gesamte Region sein. Zwar sind einige der Häuser hier noch nicht ganz fertiggestellt, doch der Wiederaufbau geht weiter. Die Baumpflanzungen haben sich mittlerweile auf steile Stellen in der Gegend verlagert. Das freie Land rühren wir nicht an, damit andere Rückkehrer dort ihre Häuser bauen und Gärten anlegen können“, erzählt Karatay.

Wegen der von Soldaten gelegten Brände seien in der Vergangenheit viele Baumpflanzaktionen vergeblich gewesen. „Wir haben aber nicht aufgegeben, weil aus Herbol ein ökologisches und nachhaltiges Grünland werden soll. Allerdings haben wir noch einige Probleme zu bewältigen, insbesondere die Anbindung des Dorfes an das Stromnetz. Außerdem haben wir hier keine Infrastruktur und ernsthafte Schwierigkeiten, was die Verkehrsanbindung betrifft. Wir verbleiben hier wirklich mit nur sehr begrenzten Mitteln. Doch wir sind guter Dinge, dass sich die Situation bessert und wir unsere Arbeiten effektiver angehen können“.

‚Stolz darauf, neue Lebensräume zu schaffen‘

Es erfülle ihn mit Stolz, dass er neue Lebensräume schafft, sagt Petros Karatay abschließend. Er sei glücklich darüber, dass es ihm andere gleichtun. „Dort, wo es Erde, Licht und Wasser gibt, kann ein Mensch für sich sorgen. Sollte es trotz dessen nicht möglich sein, sollte man den Fehler bei sich selbst suchen“.

Im Januar hatten wir schon einmal über Petros Karatay berichtet. Damals ging es um seine vorübergehende Inhaftierung. Die Staatsanwaltschaft hatte Karatay aufgrund einer anonymen Anzeige wegen seinen Beiträgen in den sozialen Medien „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ vorgeworfen. Nach zwei Wochen im Gefängnis wurde er entlassen.