Die Kapitulation des Westens vor Erdoğan

Es scheint, als eröffne das AKP-Regime in Europa gerade eine nächste Front in seinem Feldzug gegen Kurd:innen. Dass die Regierungen in der EU der Abschaffung ihrer vermeintlichen Werte zustimmen, ist ein mehr als bedenkliches Zeichen.

Kommentar von Sarya Taro

Vorletzte Nacht lässt also der türkische Präsident Tayyip Erdoğan mit den Razzien gegen zwei kurdische TV-Sender die Pressefreiheit in Belgien außer Kraft setzen. Fast gleichzeitig Razzien in kurdischen Vereinen und Festnahmen in Frankreich. Deutschland lässt Kurden aus anderen EU-Ländern ausliefern, um sie mit §129-Verfahren zu kriminalisieren und auf Jahre wegzusperren. Andere Staaten schieben gleich in türkische Foltergefängnisse ab, und so weiter; die Liste ist lang. Man kann sicher sein, all dies geschieht nicht, weil die EU Kurd:innen nicht besonders mag – wenngleich man auch nicht von Sympathien gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung ausgehen sollte ...

Es scheint, als eröffne das AKP-Regime in Europa gerade eine nächste Front in seinem Feldzug gegen Kurd:innen. Die Gelegenheit ist ja auch günstig: EU und NATO sind fokussiert auf die Kriege in der Ukraine und Palästina. Sie sind damit beschäftigt, genug Waffen herbeizuschaffen und ihr Narrativ von einer „Verteidigung der Demokratie und Freiheit“ aufrecht zu halten. Daneben müssen sie China im Auge behalten. Und dann soll auch noch die Klimakatastrophe abgewendet und die eigene Bevölkerung nicht an die Rechtspopulisten verloren werden. Die weltpolitische Gemengelage überfordert derzeit so manche Regierungen.

Und dann kommt auch noch Erdoğan mit seinem abgrundtiefen Hass gegen Kurd:innen, die ihren Kampf für Selbstbestimmung partout nicht aufgeben wollen. Nach der Niederlage bei den Kommunalwahlen in der Türkei und den nicht mehr zu verheimlichenden Verlusten, die die PKK-Guerilla der türkischen Armee zufügt, muss er sich sputen, will er in der wirtschaftlich angeschlagenen Türkei nicht mit Schimpf und Schande vertrieben werden. Seine Vision, eine ernstzunehmende Hegemonialmacht im Nahen Osten zu werden, droht wie eine Seifenblase zu platzen. Die großmäuligen Reden vom Wiederaufleben des Osmanischen Reichs drohen als lächerliche Fußnote in den Geschichtsbüchern erwähnt zu werden.

Und so irrlichtert der türkische Präsident fast schon verzweifelt durch die Weltpolitik, versucht Freunde zu finden, biedert sich gar als „Friedensengel mit Verhandlungsgeschick“ an. Hier bisschen drohen, dort bisschen erpressen, das hat er als Junge im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa gelernt.

Weshalb sich jedoch die westlichen Staaten trotz all ihrer Sorgen gefallen lassen, dass ihnen ein Autokrat, der eigentlich schon am Ende ist, auf der Nase herum tanzt, ist schwer zu begreifen. Dass die Regierungen in der EU der Abschaffung ihrer „Werte“ – wie zum Beispiel Pressefreiheit – die sie sonst so wortgewaltig verteidigen, zustimmen, ist ein mehr als bedenkliches Zeichen. Dies sollte allen zu denken geben, die noch der Auffassung sind, in Europa gehe es um eine „wertegeleitete“ Politik.