„Völker Nord- und Ostsyriens sind nicht alternativlos”

Angesichts der kritischen Situation in Nord- und Ostsyrien und der akuten Bedrohung durch den türkischen Staat birgt der US-Truppenabzug viel Potenzial, um die Region in die blutige Zeit vor acht Jahren zurückzubringen, sagt Sîham Qeyro im ANF-Gespräch.

Nach den Drohungen einer weiteren Invasion in Nord- und Ostsyrien durch den türkischen Staat und der Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, die US-Truppen aus Syrien zurückzuziehen, wird immer offensichtlicher, dass die Völker der Region zum Gegenstand schmutziger Verhandlungen zwischen Washington und Ankara gemacht wurden. Wir haben mit christlichen Verantwortlichen der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien über die Angriffsdrohung gegen Rojava gesprochen. Sie sagen, die Völker der Region seien nicht alternativlos.

Sîham Qeyro als Ko-Vorsitzende des Generalrats der Autonomieverwaltung äußert tiefe Zweifel an der Rückzugsentscheidung der USA aus Syrien, da zugleich eine neue Militärinvasion der Türkei droht. Gerade deshalb sei die Ankündigung des Truppenabzugs auf großes Unverständnis gestoßen. Man frage sich, was die USA mit diesem Rückzug, insbesondere in einer Phase wie der jetzigen, bezwecken möchten. Es könne auch durchaus sein, dass es sich um eine richtige Entscheidung handelt, obwohl sie Misstrauen erwecke, sagt Qeyro. „Aber angesichts der kritischen Situation in Nord- und Ostsyrien und der akuten Bedrohung durch den türkischen Staat birgt diese Entscheidung viel Potenzial, um uns in die blutige Zeit vor acht Jahren zurückzubringen”, so Sîham Qeyro.

De-facto-Bündnis

Die USA halten sich seit dem Kampf um Kobanê in Syrien auf. Mit der Anwesenheit der US-Truppen habe sich ein De-facto-Bündnis zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und den USA entwickelt, sagt Qeyro und erklärt: „Politisch betrachtet hat die Rückzugsentscheidung sowohl positive als auch negative Seiten. Positiv ist etwa, dass diese Entscheidung möglicherweise ein Anstoß für andere Kräfte in Syrien sein könnte, sich aus der Region zurückzuziehen. Wir haben die USA nicht hierher gerufen, sie kamen während des Kampfes um Kobanê. Mit dem Widerstand der YPG/YPJ und QSD gingen die Koalitionskräfte ins Feld, womit auch der gemeinsame Kampf gegen den gemeinsam Feind begann. Von Til Hemis bis Raqqa wurden unzählige Gebiete vom Islamischen Staat befreit“, betont Qeyro.

QSD werden an Mission festhalten

Die Politikerin unterstreicht, dass die USA nicht in die Region eingeladen wurden. So wie die QSD bisher das syrische Territorium vom Islamischen Staat und anderen Dschihadistenmilizen gesäubert haben, werden die Demokratischen Kräfte Syriens auch weiterhin an ihrer Mission festhalten und ihre Rolle im Kampf gegen den Terror einnehmen. „Wann immer unsere Kräfte einen Teil syrischen Bodens von der Besatzung befreien, folgt dem eine Drohung des türkischen Staates. Sie haben bereits Cerablus, Bab, Azaz und zuletzt Efrîn besetzt. Nun soll die Invasion bis nach Qamişlo ausgeweitet werden. Wir als Völker Nord- und Ostsyriens verteidigen unsere Heimat seit Beginn der Krise. Dabei haben wir zu keinem Zeitpunkt darauf gehofft oder geäußert, dass die USA kommen und uns helfen sollen. Wo auch immer syrischer Boden besetzt ist, kämpften die QSD dafür, Syrien zu befreien und werden dies auch in Zukunft tun“, sagt Qeyro.

UN-Maßnahmen gegen türkische Angriffe

Dass sich die USA eines Tages aus Syrien zurückziehen, sei klar gewesen. Aus diesem Grund habe man sich seit Beginn der Krise dafür eingesetzt, dass die Probleme in Syrien nur von den Völkern der Region gelöst werden können. „Unser Ziel ist es, die Syrienkrise mit innersyrischen Akteuren zu lösen. Gleichzeitig fordern wir von den Vereinten Nationen und dem UN-Sicherheitsrat, eine Haltung gegen die Drohungen des türkischen Staates anzunehmen. Denn ein Angriff wird nicht nur eine humanitäre Krise auslösen, sondern auch die Lösung des Konflikts erheblich beeinträchtigen“, sagt Qeyro.

US-Truppenabzug stärkt den IS

Der QSD-Sprecher Kino Gabriel erklärt, die Rückzugsentscheidung der USA trage maßgeblich zum Erstarken des Islamischen Staates bei und habe Auswirkungen auf den Kampf gegen den Terror. „Mit der Ankündigung des Truppenabzugs begann die Dschihadistenmiliz sowohl ihre Einheiten an den Fronten in Deir ez-Zor und Hajin als auch ihre Schläferzellen zu mobilisieren. Die Offensive gegen den IS geht noch immer weiter. Nach der Trump-Erklärung intensivierte der IS seine Angriffe. Diese Entscheidung untergräbt die Errungenschaften der QSD und der Koalition im Kampf gegen den IS“, so Gabriel.

Entscheidung öffnet anderen Kräften Tür und Tor

Das US-Vorgehen öffne weiteren Krisen und Kräften, die sich syrisches Territorium aneignen möchten, Tür und Tor, betont Gabriel. Insbesondere solchen wie dem türkischen Staat, der den Willen der ansässigen Völker nicht anerkennt. „Es wurde ein neues Szenario vorbereitet. Wie werden sich die anderen Koalitionspartner verhalten, welche Kräfte treten in den Vordergrund, was geschieht mit den Errungenschaften Syriens, wer hat es auf die Region abgesehen? All diese Fragen werden in diesem Szenario neu bestimmt“, sagt Gabriel.

Diskussionen zu alternativen Lösungsansätzen

Man werde an dem Kampf für ein demokratisches und gerechtes Syrien jedoch festhalten, betont der QSD-Sprecher Kino Gabriel und erklärt: „Wir werden auch weiterhin unser Projekt für den Aufbau eines neuen Syriens verteidigen. Sowohl für die QSD als auch für den demokratischen Syrienrat (MSD) gibt es Chancen dafür. Im Moment werden zwar Meinungen laut, wir könnten unsere Ziele nicht ohne eine äußere Kraft erreichen. Wir haben jedoch Mittel und Wege. Als QSD haben wir die Kraft, unsere Völker zu verteidigen und ihre Sicherheit zu gewährleisten.  Wir verfolgen alternative Pläne und haben diese zur Diskussion freigegeben. Wir haben die Kraft, dies zu tun“.