Abschied von Sırrı Süreyya Önder

Tausende Menschen verabschieden sich in Istanbul von Sırrı Süreyya Önder, der Stimme des Friedens, der Kunst und der Hoffnung – begleitet von bewegenden Reden, persönlichen Erinnerungen und dem Versprechen, seinen Einsatz für Versöhnung weiterzutragen.

Letzte Ehre für die Stimme des Friedens

Tausende Menschen haben sich am Sonntag im Atatürk-Kulturzentrum (AKM) am Istanbuler Taksim-Platz versammelt, um dem verstorbenen Politiker, Autor und Künstler Sırrı Süreyya Önder die letzte Ehre zu erweisen. Der langjährige Abgeordnete und Vizepräsident des türkischen Parlaments, der zugleich Mitglied der Imrali-Delegation war, verstarb am Vortag in einem Krankenhaus in Istanbul. Die Gedenkveranstaltung verwandelte sich in ein eindrucksvolles Plädoyer für Frieden, Gerechtigkeit und Völkerverständigung.

Bereits in den frühen Morgenstunden strömten zahlreiche Menschen ins AKM – Menschen aus Kunst, Politik und Gesellschaft füllten den Saal bis auf den letzten Platz. Viele blieben vor den Türen, während drinnen Önders Sarg, mit Nelken geschmückt und mit einem weißen Tuch bedeckt, von Angehörigen auf die Bühne getragen wurde. Minutenlanger Applaus begleitete seinen letzten Auftritt.


Immer wieder hallten emotionale Rufe durch den Saal: „Şehîd namirin“ – Gefallene sind unsterblich – und „Es lebe die Freundschaft der Völker“. Eine Friedensmutter sang eine klagende kurdische Wehklage – sie erfüllte den Raum mit tiefer Trauer.

Ceren Önder Kandemir: „Ein Vater, ein Freund, ein Licht“

Nach einer Schweigeminute wurde ein Video über das Leben Önders gezeigt. Anschließend verlas seine Tochter Ceren Önder Kandemir einen bewegenden Abschiedsbrief: Sie sprach von ihrer innigen Beziehung zum Vater, ihrer Angst, ihn zu verlieren, und ihrer tiefen Dankbarkeit für seine Liebe, Fürsorge und Freundschaft. Mit eindrucksvollen Worten beschrieb sie die Leere, die er hinterlässt – aber auch ihre Hoffnung, seine Werte weiterzutragen.

„Ich hatte immer Angst, dich zu verlieren. Das war mein einziger Albtraum. Aber ich hatte das Glück, dich ganz zu erleben. Deine Liebe reichte nicht nur für mich, sondern auch für meinen Sohn – und dessen Kind.“


Sie beschrieb die vielen kleinen Gesten, mit denen Önder seine Liebe ausdrückte: das gemeinsame Kaffeetrinken, die spontane Musik, die mitfühlenden Telefonate, die kleinen Gaben für seinen Enkel. Zugleich machte sie deutlich, wie sehr sie seine Freundschaft vermissen werde – eine Freundschaft, die weit über das Vatersein hinausging.

„Du hast dich nie beklagt, hast nie Hass gezeigt. Dein Leben war einfach – ohne Besitz, ohne Luxus, aber voller Würde.“

Mit einer Mischung aus Trauer und Stolz verabschiedete sie sich: „Nun ruh dich aus, mein Kranich. Wir werden deine Geschichten weitergeben. Ich spüre in mir einen Frieden – den Frieden, dass du nicht mehr kämpfen musst.“

Abdullah Öcalan: „Ein wahrer Sohn der Völker“

Im weiteren Verlauf wurde das Kondolenzschreiben des PKK-Begründers Abdullah Öcalan verlesen, das dieser gestern von der Gefängnisinsel Imrali aus an die DEM-Partei gesandt hatte. Darin bezeichnete er Önder als „wahren Sohn der Völker Anatoliens“ und „Symbol des Friedens“. Besonders hob er dessen Engagement für einen dauerhaften Dialog hervor.

Hatimoğulları: „Diesmal wird dein Wort nicht in der Luft verhallen“

Auch die Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları, würdigte Önder als eine integrative Persönlichkeit. Mit bewegten Worten sprach sie über Önders Rolle als Symbolfigur des Friedens und als Brückenbauer zwischen den Ethnien und Gesellschaftsschichten:

„Sırrı war der Friedensbotschafter aller Sprachen, aller Völker, aller Geschlechter.“ Sie hob hervor, wie sehr seine Krankheit und der gemeinsame Umgang mit ihr die Vision einer solidarischen Gesellschaft verkörpert habe: „Das, was in der Klinik geschah – die Solidarität, das Zusammenstehen – war bereits ein gelebter Ausdruck seiner Botschaft: Demokratie, Gerechtigkeit, Menschlichkeit.“

Hatimoğulları erinnerte daran, wie Önder sich stets für die Rechte der Unterdrückten eingesetzt habe – für Frauen, Arme, Verfolgte. Sie versprach: „Wir werden sein Vermächtnis ehren. Diesmal, Sırrı Hoca, diesmal werden wir es schaffen. Dein Wort wird nicht in der Luft verhallen.“


Tuncer Bakırhan: „Wir geben dir ein Versprechen“

Auch der zweite Ko-Vorsitzende der Partei, Tuncer Bakırhan, hielt eine emotionale Rede, in der er Sırrı Süreyya Önder als „Sohn der Sprache, des Wortes und der Poesie“ beschrieb. Er verwob seine Abschiedsworte mit Zitaten des Schriftstellers Yaşar Kemal – derselben Stimme, mit der Önder einst gemeinsam für den Frieden eingetreten war:

„Du warst die Zartheit in einer rauen Welt. Du hast nicht nur über Bäume und Wälder geschrieben, sondern ihre Sprache gesprochen. Deine Geschichte war die Geschichte der Völker.“

Er erinnerte an Önders Rolle beim historischen Dolmabahçe-Treffen und seinen Einsatz, als der Friedensprozess auf dem Spiel stand: „Du hast gesagt: ‘Die Berge, die Menschen – sie alle sind müde. Jetzt muss der Frieden gewinnen.’“

Sein Schlusswort war ein Versprechen: „Wir geben dir ein Versprechen: Der Euphrat wird ins Marmarameer fließen, und der Frieden wird siegen.“


Nach weiteren Reden, unter anderem gehalten von der DEM-Abgeordneten Pervin Buldan und der Friedensmutter Rewşan Döner, begab sich die Trauergemeinde auf eine Prozession zur Barbaros-Hayrettin-Paşa-Moschee, wo das Totengebet für Sırrı Süreyya Önder gehalten wurde.

Totengebet in Barbaros-Hayrettin-Paşa-Moschee

 


Im Hof der Moschee versammelten sich bereits Stunden vor Beginn der Zeremonie zahlreiche Menschen. Auch im Umfeld der Moschee herrschte dichtes Gedränge. Besonders bewegend war der Moment, als Zeliha Önder, die Mutter des Verstorbenen, am Sarg ihres Sohnes in Tränen ausbrach und lange Zeit in stiller Trauer verharrte.


Zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft erwiesen Önder die letzte Ehre, darunter die DEM-Vorsitzenden Tülay Hatimoğulları und Tuncer Bakırhan, hochrangige Vertreter:innen von CHP, AKP, HDK, ESP, DEVA, Gelecek Partisi, Yeniden Refah und weiteren Parteien, Parlamentspräsident Numan Kurtulmuş, CHP-Chef Özgür Özel, dessen Vorgänger Kemal Kılıçdaroğlu sowie Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan. Auch zahlreiche Kulturschaffende wie Yılmaz Erdoğan, Gülten Kaya, Ibrahim Tatlıses, Mahsun Kırmızıgül und der Theologe Ihsan Eliaçık nahmen teil.



Ein Abschied mit Symbolkraft und stiller Größe

Immer wieder riefen die Menschen während der Zeremonie: „Sırrı Süreyya ist unsterblich“, „Unser Versprechen an ihn ist der Frieden“ und „Şehîd namirin“ (Gefallene sind unsterblich).

Tränen, Anteilnahme und überparteiliche Präsenz

Özgür Özel, der trotz eines tätlichen Angriffs bei der vorherigen Gedenkfeier im AKM erneut anwesend war, wurde mit Applaus begrüßt. Ein Teilnehmer rief ihm zu: „Wer dich angreift, ist ein Verräter.“

Ein letzter Gruß des Imams

Der Imam der Zeremonie erinnerte sich an ein Gespräch mit Sırrı Süreyya Önder: „Er sagte zu mir während einer Beerdigung: ‚Ist nicht am Ende alles, was wir die Welt nennen, nur ein Leichentuch?‘ Heute liegt die Antwort auf diese Frage auf dem Katafalk.“

Er fragte in die Menge: „Bezeugt ihr, dass er ein Mensch war, den alle als Sırrı Abi geliebt haben?“ Und die Menge antwortete: „Ja!“ Gemäß Önders Wunsch leitete Ihsan Eliaçık das Totengebet.

Nach dem Gebet setzte sich der Trauerzug in Bewegung zum Zincirlikuyu-Friedhof. Symbolträchtig trugen Müll- und Recyclingarbeiter am Rande der Prozession ein Banner mit den Worten: „Wir tragen deine Last weiter – ruhe in Frieden, Bruder Sırrı.“

Mit dem Ruf „Der Friedensbotschafter ist unsterblich“ wurde Sırrı Süreyya Önder schließlich am frühen Abend zur letzten Ruhe gebettet. Der Sarg des im Alter von 62 Jahren verstorbenen Politikers wurde auf den Schultern seiner Weggefährt:innen und unter schrillem Trillern der kurdischen Friedensmütter zum Friedhof getragen.

Die Menschenmenge begleitete Önders letzten Weg mit Applaus, Blumen und Würdigungen wie „Gefallener des Friedens“ als Ausdruck der tiefen Dankbarkeit für seinen jahrzehntelangen Einsatz für Versöhnung, Dialog und ein friedliches Miteinander der Völker. Sein Grab wurde nach der Beisetzung mit Blumen geschmückt.