Revolution im Rechtssystem Nordsyriens
An der Rechtsakademie in Til Maruf werden Juristinnen und Juristen aus den befreiten Gebieten Nordsyriens in arabischer Sprache ausgebildet. Nach der IS-Herrschaft ist der Hunger nach Gerechtigkeit groß.
An der Rechtsakademie in Til Maruf werden Juristinnen und Juristen aus den befreiten Gebieten Nordsyriens in arabischer Sprache ausgebildet. Nach der IS-Herrschaft ist der Hunger nach Gerechtigkeit groß.
Til Maruf ist ein kleiner Ort in Nordsyrien, der durch Angriffe der Al-Nusra-Front und des „Islamischen Staat“ schwer zerstört wurde. Die gesamte Bevölkerung war geflohen, erst 340 der ursprünglich 600 Haushalte sind nach der Befreiung zurückgekehrt. Überall gab es große Zerstörungen, sogar die örtliche Moschee wurde zerbombt.
Am Rande des Dorfes liegt die palastartige, arabischsprachige Akademie für Recht. Momentan lernen in dem inzwischen vierten Durchgang 50 Schülerinnen und Schüler, darunter 14 Frauen, das Rechtssystem der Demokratischen Selbstverwaltung von Nordsyrien kennen. Die meisten waren schon vor der Revolution Juristen, sie kommen aus Minbic, Raqqa und Deir ez-Zor.
Eine Teilnehmerin des Lehrgangs berichtet, dass sie fünf Jahre unter der Besatzung des IS leben musste und daher der Hunger nach Gerechtigkeit besonders groß sei. Die Bildungsinhalte sind Geschichte und Philosophie, die Frauenfrage im Mittleren Osten und das Rechtssystem der Demokratischen Föderation Nordsyriens.
Begonnen wird morgens um 6.30 Uhr mit Sport, nach dem Frühstück beginnt der Unterricht um 8 Uhr und dauert mit Pausen bis 19 Uhr an. Danach gibt es noch eine Stunde Selbstbildung und Vorbereitung. Der Lehrgang dauert 45 Tage, ein sehr straffes Programm also.
In allen Regionen Nordsyriens wurden Gerechtigkeitskommissionen gebildet, die Rechtsstreitigkeiten regeln. Erst wenn diese die Probleme nicht lösen könnten, wird der Fall vor das „Diwana Adalet“ gebracht. Das Ziel sei nicht ein Urteil zu fällen, sondern eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten gut leben können, betont ein Lehrgangsteilnehmer. Jetzt gegen Ende der Ausbildung findet eine Diskussion über die Unterschiede zum Rechtssystem des Regimes statt.
Frauenrechte
Nicht nur die Teilnehmerinnen, auch die Teilnehmer betonen die große Veränderung in Bezug auf die Rechte von Frauen. Fälle, die Frauen betreffen, werden zunächst im „Mala Jin“ besprochen, den in jedem Ort aufgebauten Frauenzentren. Meist wird dort schon das Problem gelöst. Eine Teilnehmerin betont, dass zuvor die Aussage von zwei Frauen so viel gegolten habe wie die eines Mannes. Kinder wurden bei einer Scheidung automatisch dem Mann zugesprochen, jetzt der Frau. Kinderehen und Polygamie werden jetzt systematisch bekämpft. Das Heiratsalter wurde auf 18 heraufgesetzt. Nach Jahren des Terrors durch den IS waren Frauen im öffentlichen Leben nicht mehr vorhanden, erst das neue Rechtssystem gibt ihnen wieder einen Platz in der Gesellschaft. „Während der Zeit des Regimes war das Justizsystem darauf aufgebaut, den Willen der Frauen zu brechen. Unter dem IS konnte ein Mann sogar vier Frauen heiraten. Jetzt steht das Recht auf Seiten der Frauen“, sagt die Teilnehmerin. Das neue Recht macht keinerlei Unterschiede bezüglich Herkunft, Alter oder Geschlecht. Frauen und Männer sind in allen Bereichen paritätisch vertreten. Die Juristinnen des Lehrgangs sagen, dass sie sich dieses Rechtssystem für ganz Syrien wünschen.
Die Gesellschaft löst ihre Probleme selbst
Das Neue an dem Rechtssystem bedeute vor allem, dass die Gesellschaft und nicht der Staat die Probleme löse. Früher habe es oft drei bis vier Jahre gedauert, bis eine Rechtsstreitigkeit gelöst wurde, nun dauere es nie länger als ein paar Wochen, erzählen die Frauen weiter. Das führe zu einer großen Akzeptanz in der Bevölkerung. Im vorherigen System sei das im Sinne der Herrschenden ausgeübte Gesetz unantastbar gewesen. Richter und Staatsanwälte wurden von oben eingesetzt und kamen in der Regel nicht aus der örtlichen Bevölkerung. Ziel war eine Bestrafung, es ging mehr um Rache als darum, eine Lösung zu finden. Das System des Regimes sei seit den 1970er Jahren unverändert gewesen, nun stünde ein großer Wandel an.
Jeder Stadtteil und jedes Dorf hat nun ein Friedens- und Konsenskomitee, das in der Gesellschaft sehr akzeptiert werde, schildern die Teilnehmerinnen. Das Wichtige sei, dass die Lösung nicht aufoktroyiert werde, sondern aus der Gesellschaft selbst komme. Werde auf dieser Ebene keine Lösung gefunden, gehe der Fall vor das „Dadgeha Gel“, das Gericht des Volkes, das von Mitgliedern der Stadtteilkomitees gebildet wird.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Lehrgangs betonen, der Staat habe immer Widersprüche zwischen den Bevölkerungsgruppen geschaffen und viele Unterschiede gemacht. Auch der IS habe dieses Prinzip angewandt. Nun sehe man keine Notwendigkeit für Herrschaft mehr, die Gerechtigkeit gelte jetzt für „alle Farben der Gesellschaft“. Ihre Basis sei Ethik und Moral. Ohnehin unterschieden sich die Gesellschaften des Mittleren Ostens kulturell nicht sehr stark.
Botschaft an Europa
Ein Teilnehmer erklärt, es sei eine große Ungerechtigkeit, dass Abdullah Öcalan, der die Grundlage für die nun aufzubauende freie Gesellschaft geschaffen habe, in der Türkei inhaftiert sei. An die Menschen in Europa möchte er eine Botschaft richten: Man wolle ein föderales freies Syrien auf der Basis des Projektes von Abdullah Öcalan aufbauen, dafür sollten sich auch die Menschen in Europa einsetzten, denn es sei ein sehr gutes Projekt für alle Menschen.