Cemil Mazlûm, ein Kommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in der Euphrat-Region, erinnert daran, dass die Menschheit mit dem Sieg von Kobanê den Mut gefunden hat, gegen den „Islamischen Staat“ (IS) zu kämpfen. Auch die internationalen Mächte trafen die Entscheidung, in den Krieg gegen den IS einzugreifen. Cemil Mazlûm betont, dass die türkischen Invasionstruppen heute genauso besiegt werden können wie der IS im Jahr 2014. Im ANF-Interview teilt er seine Gedanken zum Jahrestag des Beginns der Angriffe auf Kobanê mit.
Können Sie uns die Atmosphäre in Kobanê vor dem Beginn der Angriffe beschreiben?
Der Angriff auf Kobanê liegt nun sieben Jahre zurück. In den Personen von Arîn Mîrkan, Gelhat, Êriş, Zozan, Rêvan und Dilgeş gedenke ich aller Gefallenen des Widerstands gegen den IS, denjenigen, die ihr Leben im Kobanê-Widerstand opferten. Ich verneige mich vor ihnen.
Vor den Angriffen des IS auf Kobanê gab es bereits einen Prozess, den die Völker des Nahen und Mittleren Ostens und Syriens angestoßen hatten. Die Kurd:innen verhinderten einen Missbrauch des durch diesen Prozess entstandenen Machtvakuums und bauten selbst ein organisiertes System auf. Das kurdische Volk organisierte und verteidigte sich auf der Grundlage der Freiheitsphilosophie. Es wurden drei Kantone auf der Grundlage der Rojava-Revolution für die Menschen in Rojava und Syrien aufgebaut – Efrîn, Kobanê und Cizîrê. Natürlich waren die damaligen Umstände schwierig. Es gab Angriffe der Regierung in Damaskus. Hinzu kamen die Angriffe von Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham und anderer Gruppen, die sich unter dem Namen „Freie Syrische Armee“ organisierten und von verschiedenen Kräften in der Region unterstützt wurden. Die Kantone Efrîn, Cizîrê und Kobanê waren von diesen Söldnern eingekreist. Diese drei Regionen organisierten und verteidigten sich. Von 2011 bis 2014 gab es anhaltenden Widerstand gegen die Angriffe der Söldner. Das kurdische Volk sowie die YPG und YPJ konnten sich gegen alle Angriffe verteidigen. Sie konnten ihr eigenes Sicherheitssystem aufbauen.
Anfang 2014 tauchte der IS in vielen Regionen auf, insbesondere im Irak und in Syrien. Ausgehend von Mosul hat diese Gruppe viele Städte in Syrien erobert, von Raqqa, Deir ez-Zor, über Azaz, Aleppo, Ost-Aleppo und Tadmur. Keine Kraft, kein Staat oder keine Technik konnte dem IS standhalten. Er griff die Revolution von Rojava mit den im Irak und Syrien erbeuteten Waffen an. Es gab viele Angriffe auf die Region Cizîrê. Aber als eigentliches Ziel hatte er Kobanê ausgewählt.
Warum Kobanê?
Kobanê war für uns ein Symbol. Am 19. Juli [2012] begann hier die Revolution. Daher griffen sie Kobanê an und zielten auf den Widerstand und die Organisierung des Volkes. Gegen die Angriffe hatte Kobanê nur sehr wenige Möglichkeiten. Von 2011 bis 2014 waren die Einwohner:innen von Kobanê von Jabhat Al-Nusra, Ahrar al-Sham und anderen Gruppen eingekesselt. Bis dahin hatten es die Menschen in Kobanê geschafft, sich zu organisieren und zu verteidigen. Aber wie gesagt, als die Angriffe begannen, gab es sehr wenig Möglichkeiten. Es gab keine Munition und nicht die Möglichkeiten, einen großen Krieg zu führen. Aber sowohl die Bevölkerung als auch die Kämpfer:innen von YPG und YPJ waren in ihrer Entscheidung klar. Es war dieser Glaube und diese Entschlossenheit, die die YPG/YPJ-Kämpfer:innen dazu brachten, beim Angriff des IS keinen Schritt zurückzuweichen. Der IS war auf einer Welle aus Angst geritten und hatte so viele Orte, ohne einen Schuss abgegeben zu müssen, eingenommen. Aber gegen das Volk von Kobanê und die Kämpfer:innen der YPG und YPJ, schaffte er das nicht. Natürlich war dies ein Krieg um Sein oder Nichtsein. Tatsächlich war der Krieg in Kobanê ein Kampf zweier gegensätzlicher Ideen. Auf der einen Seite standen die Philosophie und Idee der Freiheit und auf der anderen Seite ein despotisches, grausames, reaktionäres und diktatorisches Selbstverständnis. Es war also ein Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Es konnte nur eine Seite gewinnen. In Kobanê war das Licht der Gewinner.
Es gab an vielen Orten Kämpfe gegen den IS. Warum wurde Kobanê weltweit so berühmt?
Die ganze Welt hat die Entschlossenheit und den Widerstand dort erlebt. Kobanê war ein kleiner Ort, der es schaffte, diese Macht zu bekämpfen und zu widerstehen, obwohl die Stadt nicht viel Unterstützung hatte. Die ganze Welt versuchte, das zu verstehen. Die Menschen wollten diejenigen kennenlernen, die so entschlossen und heldenhaft gekämpft hatten. Natürlich hat dieser Widerstand auch die Aufmerksamkeit internationaler Mächte auf sich gezogen. Tatsächlich führte der Widerstand von Kobanê dazu, dass internationale Kräfte beschlossen, den IS zu bekämpfen. Zuvor hatten diese Kräfte keine solche Entscheidung getroffen. Der Kobanê-Widerstand war auch eine Hoffnung für die Menschen der ganzen Welt. Er hat bewiesen, dass man den IS bekämpfen kann. Nachdem sie all diesen Widerstand und diese Entschlossenheit gesehen hatten, entschlossen sich die internationalen Mächte selbst an diesem Krieg teilnehmen.
Es gab große Unterstützung von den Völkern der Welt. Aus Nord- bis Süd- und Ostkurdistan, aus Europa und der ganzen Welt kamen die Menschen und haben diesen Kampf unterstützt. Es wurde eine umfassende Kampagne gestartet. Die Menschen überrannten die Grenzen und schlossen sich der Schlacht von Kobanê an. Tausende Menschen standen auf und dutzende Internationalist:innen schlossen sich dem Widerstand an. Kobanê wurde in diesem Sinne zum Symbol. Gleichzeitig gab es große Unterstützung vom syrischen Volk. Arabische, assyrische, turkmenische und Gruppen wie Liwa al-Shamal, Suwar al-Raqqa und Jabhat al-Akrad schlossen sich dem Widerstand an. Mit diesem Widerstand und dieser Unterstützung gelang es den YPG/YPJ-Kämpfer:innen, erfolgreich zu sein.
Welche Auswirkungen hatte der Sieg von Kobanê auf den Verlauf der Rojava-Revolution?
Der Kobanê-Widerstand war ein Neuanfang für Syrien. Es war der erste Erfolg und Sieg gegen den IS in Syrien. Also wurde mit der Befreiung anderer besetzter Gebiete in Syrien begonnen. Die Bevölkerung Syriens beteiligte sich an diesen Operationen. Sie alle sammelten und organisierten sich innerhalb der Demokratischen Kräfte Syriens, um die Besatzer von ihrem Land zu vertreiben. Die YPG und YPJ setzten diesen Widerstand ohnehin bis zur Befreiung von al-Bagouz fort. Der Krieg von hoher Intensität dauerte fast sieben Jahre und kostete einen sehr hohen Preis. Tausende sind gefallen. Hunderttausende sind geflohen. Tausende wurden vom IS abgeschlachtet. Es gibt immer noch Tausende vom IS Verschleppte, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist. QSD, YPG und YPJ setzten ihren Kampf bis al-Bagouz fort und säuberten das letzte Hauptquartier des IS dort vollständig.
Aber die Idee und die Mentalität des IS existiert weiter. Die Angriffe auf die Idee der Freiheit und das Projekt der demokratischen Nation ebnen den Weg für die Erneuerung einer so gefährlichen Organisation wie den IS. Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Das beste Beispiel dafür sind die andauernden Invasionsangriffe auf die Region. Für uns dient jeder, der die Philosophie und Idee der Freiheit angreift, der IS-Mentalität. Während die Angriffe andauern, sind auch Teile unseres Territoriums besetzt.
Was können Sie zu den Angriffsdrohungen, Attacken und besetzten Gebieten in Nord- und Ostsyrien sagen?
Unser Volk hat große Erfahrung im Krieg der letzten zehn Jahre gemacht. Es weiß, wer Freund und wer Feind ist. Wir als QSD wissen sehr genau, dass unser Volk unser engster Verbündeter ist. Unser Volk ist unser Bezugspunkt. Indem wir uns auf uns selbst und unsere eigene Stärke verlassen, führen wir den Widerstand auf der Grundlage unserer eigenen Entscheidungen und unserem Versprechen an unsere Gefallenen. Wir tun das, ohne irgendetwas von außen zu erwarten.
Die Situation in Syrien ist offensichtlich. Die politische und wirtschaftliche Krise in Syrien dauert weiterhin an. Es gibt immer noch verschiedene Pläne von Regionalstaaten und internationalen Mächten in Bezug auf die Region. Deshalb werden wir nicht den Fehler machen und uns hinstellen und sagen, „Wir haben den IS besiegt“, „Wir haben unsere Sicherheit garantiert“. Als Völker von Nord- und Ostsyrien müssen wir uns gemeinsam gegen wirtschaftliche, militärische und politische Krisen verteidigen. So wie wir die schwierige Zeit 2014 gemeinsam überwunden haben, werden wir diese jetzt auch gemeinsam überwinden. Heute haben wir mehr Möglichkeiten, und wir werden damit jedes Hindernis meistern. Ja, es gibt einige Mängel, es gibt einige Unzulänglichkeiten. Das sehen wir. Aber wir haben immer noch einen großen Feind. Wir stehen vor großen Bedrohungen. Unser einziges Ziel im Moment ist, gegen diese Bedrohungen erfolgreich zu sein. Es geht darum, die Revolution in Nord- und Ostsyriens zu sichern. Wir haben zehn Jahre Erfahrung. So wie wir sie schon früher geschlagen haben, können wir heute alle ihre Pläne scheitern lassen.