Aldar Xelîl: Mit Intervention Zwischenlösung für Syrien gefunden

Aldar Xelîl (TEV-DEM) bewertet gegenüber ANF den Militärschlag gegen Syrien und die aktuelle Situation in der Region.

Aldar Xelîl, Ko-Vorsitzender der nordsyrischen Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) erklärt zu den Militärschlägen der USA, Frankreichs und Großbritanniens gegen Syrien: „Mit der Intervention wurde eine Zwischenlösung erreicht“.

Fangen wir mit dem aktuellsten Thema an. Die USA, England und Frankreich haben in der Nacht zu Samstag aufgrund von Giftgasvorwürfen das syrische Regime bombardiert. Wie bewerten Sie diesen Angriff?

Dieser Angriff hat sowohl kurz- und langfristige Gründe als auch Ziele. Es heißt, dass der Grund für den Angriff der Einsatz von Giftgas sei. Wir haben als kurdische Gesellschaft Giftgasangriffe erleben müssen und sind gegen den Einsatz von Giftgas, egal wer es einsetzt. Diejenigen, die Giftgas benutzen, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden und es müssen die notwenigen Maßnahmen getroffen werden, damit diese Waffen nicht noch einmal genutzt werden. Doch wer das Giftgas wie benutzt hat und woher es stammt, muss untersucht werden.

Doch eine wichtigere Frage ist, warum diese Giftgaswaffen benutzt wurden und warum Syrien ständig auf militärische Optionen zurückgreifen muss. Kann man statt militärischen Optionen nicht politische Möglichkeiten diskutieren? Früher oder später müssen die Probleme Syriens mit politischen Methoden und Dialog gelöst werden. An allererster Stelle muss dies das syrische Regime erkennen. Es hätte die Probleme Syriens lösen müssen. Mit der andauernden Existenz dieser Probleme wird diese Situation weiter andauern. Das syrische Regime muss erkennen, dass es seine innere Krise nicht durch Russland oder andere Kräfte lösen werden wird. Wenn Syrien wirklich geschützt werden soll, dann muss dafür vor allem der Weg der Demokratie beschritten werden. Die letzten Angriffe haben dies nochmal klar zur Schau gestellt.

Wir stehen an diesem Punkt auf keiner Seite. Wir sprechen schon immer von der Notwendigkeit einer friedlichen Lösung. Auf der anderen Seite müssen diejenigen, die von dem Giftgasangriff sprechen, auch die Angriffe auf Efrîn sehen. Dabei wurden chemische Waffen eingesetzt, Hunderte Zivilisten getötet und verletzt, Tausende vertrieben. Warum ist dazu nichts gesagt worden? Ich möchte trotzdem wiederholen, dass die militärische Option nicht die primäre sein sollte, aber auch diejenigen, die diese Waffen eingesetzt haben, zur Rechenschaft gezogen werden sollten.

Eine andere Frage nach dem Angriff war, ob diese weiter gehen werden. Denken Sie, diese Angriffe werden kurz- und langfristig weiter andauern, und was für Folgen sind zu erwarten?

Wir haben von den kurzfristigen Punkten gesprochen. Aber es gibt auch langfristige Gründe. Und dies sind die Widersprüche zwischen den USA und Russland, sowie den Koalitionskräften und den in Syrien aktiven Kräften.

Die USA, England, Frankreich und ihre Verbündeten akzeptieren nicht, dass die ganze Initiative in Syrien an Russland übergeht. Die Astana-Vereinbarungen und die russischen Vorstöße in Syrien sind nicht im Interesse der USA. Die USA möchten den Einfluss Russlands brechen, das Bündnis zwischen Russland, der Türkei und Iran zerschlagen und Genf erneut aktivieren. Es wird versucht, die USA als stärkste Kraft in Syrien und der Region aufzubauen. Russland hat erkannt, dass es in Syrien nicht alleine ist.

‚Mit der Intervention wurde eine Zwischenlösung gefunden‘

Mit den Angriffen haben sie Möglichkeit erlangt, ein Bündnis in dem Gebiet zu schließen. Solch eine Intervention hat genügt, um eine Einigung zwischen diesen gegensätzlichen Kräften zu erzielen. Weder ist es, wie Trump es sagte, dazu gekommen, dass alles dem Erdboden gleichgemacht wird, noch haben sich die Absichten Russlands verwirklicht. Man hat eine Zwischenlösung gefunden. Nachdem Moskau in Kenntnis gesetzt wurde, sind einige Stellen des Regimes getroffen worden. So haben sie ihre Botschaft übermittelt, die lautet: ‚Schaut her, wir können antworten, wann wir wollen.

Seit Beginn der Krise in Syrien redet der türkische Staat davon, das Regime zu stürzen. Seit 2016 handelt die Türkei gemeinsam mit Russland und wendet sich gegen die USA. Für die Besatzung Efrîns gab Russland grünes Licht. Aber nachdem der türkische Staat die Raketen der USA sah, hieß es auf einmal, die Angriffe auf Syrien seien angemessen. Um Russland Honig um den Mund zu schmieren, sind einige Minister der AKP in den Diskurs einer politischen Lösung getreten. Wie soll man diese Politik deuten?

Der türkische Staat tanzt auf mehreren Seilen gleichzeitig. Er führt keine gefestigte, solide Politik sondern geht tagtäglich mit einer Seite eine Beziehung ein, um seine Interessen zu schützen. In chaotischen Situationen kann ein Staat auf diese Weise kurzzeitige Gewinne erzielen. Doch mit solch einer Politik wird es schwierig sein, langfristige und strategische Interessen aufrechtzuerhalten. Nach diesem Schritt wird es einige Veränderungen in den Beziehungen des türkischen Staates geben. Die Aufrechterhaltung der bisherigen Beziehungen mit Russland und Iran scheint schwierig zu werden. Auch die Beziehungen mit den USA und dem Westen werden nicht dieselben sein. Die Türkei wird einige Entscheidungen treffen und gewisse Beziehungen beenden müssen. Von der Türkei wird Moskau fordern, gewisse Zugeständnisse zu machen, nachdem Russland die Erlaubnis zur Besatzung Efrîns erteilt hat. Die Türkei wird gezwungen sein, ihre Strategie zu überdenken und sich vor allem das neue Schema vor Augen zu halten; sie muss begreifen, dass die USA und der Westen in Syrien nicht schweigen werden. Die Türkei hat gesehen, dass der Westen die Macht besitzt, alte Beziehungen abzubrechen, um neue einzugehen.

Auch wenn sich die Türkei Russland nähert, so ist sie dennoch ein Mitglied der NATO. Es war eine kleine Probe, die sie doch sehr überrascht und aus dem Konzept gebracht hat. Unserer Einschätzung nach wird die Frist, die Russland dem türkischen Staat gesetzt hat, damit dieser seinen Verpflichtungen nachkommt, in eine neue Phase übergehen.

Russland wird dem türkischen Staat auferlegen, gewisse Verpflichtungen zu erfüllen…

Das ist richtig. Die Zeit dafür ist gekommen. Sollte der türkische Staat seine Verpflichtungen erfüllen, heißt das, dass er seine Wahl getroffen hat. Wenn nicht, muss die Türkei über die Zukunft ihrer Beziehungen zu Russland entscheiden.

Können denn die Türken, die gestützt auf Russland Cerablus, al-Bab, Azaz und Efrîn besetzt haben, Russland ein Bein stellen und diese unter Besatzung stehenden Städte Syriens unter die Obhut der USA oder NATO stellen?

Die neuen Verhältnisse und Positionen der internationalen Mächte ähneln nicht den jahrhundertealten Verhältnissen und dem Beziehungsgeflecht der Vergangenheit. Früher war die Welt zweipolig. Sobald eine Hemisphäre Beziehungen zu anderen Kräften eingegangen ist, hat sich die andere Hemisphäre nicht so leicht beeinflussen lassen. Jetzt ist dies nicht mehr so. Es gibt gewisse Übergänge zwischen den Polen. Aus diesem Grund denke ich nicht, dass der türkische Staat vollständig von der einen Seite zur anderen überwechseln wird. Wir können jedoch sagen, dass die Berechnungen der Türkei nicht so aufgehen, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der türkische Staat hat gegenüber Russland auch in der Vergangenheit mehrere Versprechen gegeben, aber nie eingehalten. Zum Beispiel wurden der Sowjetunion während der Gründung der türkischen Republik einige Versprechen gemacht, aber im Nachhinein kam es immer wieder zur Kehrtwende. Hat Ihrer Meinung nach Erdogan ähnliche Absichten?

Das Ende Erdoğans wird ein tiefer Fall sein. Er wird auch nicht einfach abdanken. Ich sage das nicht in Bezug auf die Beziehungen zu Russland. Die Machenschaften Erdoğans, die die Region betreffen, bereiten ihm solch ein Ende. Sollten gewisse Situationen an Deutlichkeit gewinnen, wird es Erdoğan nicht möglich sein, seine bisherigen Schachzüge zu setzen, weil die Probleme im Landesinneren ebenfalls gravierend sind. Er hat dem Land keinen Fingerbreit an Demokratie oder Gerechtigkeit gelassen. In allen Bereichen hat er sich festgefahren und das Gesamtergebnis seines Vorgehens bedeutet ein großes Risiko für die Türkei. Erdoğan erwarten schwere Zeiten. Zum Beispiel wird die Besatzung Efrîns auch nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt haben. Auf kurze Sicht kann er sagen, dass er Efrîn eingenommen und sich niedergelassen hat, aber auf langer Sicht erwarten ihn schwierige Zeiten. Die Besatzung Efrîns wird Konsequenzen mit sich ziehen.

Wir haben unser Gespräch mit aktuell brisanten Themen begonnen, doch Hauptthema für das kurdische Volk ist und bleibt Efrîn, wo sich der politische und gesellschaftliche Widerstand fortsetzt. Einige Kreise bezeichneten die jüngsten Entwicklungen als „kurdischen Fluch“. Wie bewerten Sie angesichts der momentanen Situation die jüngste Phase des Widerstandes von Efrîn?

Dreiviertel der Bevölkerung Efrîns haben ihre Heimat verlassen. Wenn Dreiviertel der Bewohner*innen eines Ortes aus ihren Häusern vertrieben werden, ist ganz klar von einer Besatzung zu sprechen. Dadurch wird auch deutlich, dass in dem besetzten Gebiet Unterdrückung herrscht. Dass solch eine hohe Zahl der Bürger*innen geflohen ist, zeigt uns, dass das ansässige Volk die Besatzungsmacht nicht akzeptiert. Gleichzeitig bedeutet es auch, dass diese Menschen sich ihrer Sache verpflichtet fühlen. Der Widerstand unseres Volkes hält unter sehr schwierigen Umständen weiter an. Neben unseren militärischen Kräften, die ihre Aktionen fortsetzen und dem Widerstand der Bevölkerung hat sich auch das Volk im Ausland für Efrîn mobilisiert. Unser politischer und diplomatischer Einsatz für Efrîn wird ebenfalls fortgeführt. Auch die Menschen in Şehba zeigen der Welt mit ihrem Kampfeswillen und ihrer Haltung, dass sie ihre besetzten Länder befreien möchten. Diese Botschaft kommt sehr klar zur Geltung. Was Efrîn angeht, sind diejenigen, die von Menschenrechten und internationaler Hilfe sprechen, taub, stumm und blind. Wir werden ihnen mit unserem Widerstand die Augen öffnen und ihnen ermöglichen, unsere Stimme wahrzunehmen. Ich sage es jedoch noch einmal; maßgeblich ist es der Widerstand unseres Volkes, der unserer Meinung nach weiter erstarken und eine Basis für das sich ändernde Gleichgewicht bilden wird.

Sie haben über Ihren diplomatischen Einsatz für Efrîn gesprochen. Können Sie darauf etwas näher eingehen?

Seit Beginn der Revolution in Rojava hält unser diplomatisches Wirken an. Aber seit der neuen Situation in Efrîn haben unsere Aktivitäten in dieser Hinsicht zugenommen. Wir haben Kontakte zu verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Staaten. Die Länder, mit denen wir Gespräche führen, sagen, dass sie gegen die Besatzung von Efrîn seien. Unglücklicherweise waren die über Efrîn geführten Verhandlungen jenseits dieses Diskurses.

Vor zwei Tagen gab der türkische Staat bekannt, dass er einen Rat für Efrîn eingerichtet habe. Sie haben diesen Rat bereits früher als „Rat der Verräter“ bezeichnet. Wie sollte Kurdistans Haltung hinsichtlich dessen sein?

Wenn wir schon von Besatzung sprechen, bleibt nichts Weiteres zu sagen übrig. Alles, was dort vor sich geht, ist doch klar und deutlich. Ich wiederhole es noch einmal. Es ist gleichgültig, was sie für Strukturen hochziehen und wie sie diese nennen. Es sind Besatzer, Dschihadisten und Verräter. Jeder Kurde, der durch das Eintreten in diesen Rat die Besatzung und den Rat selbst legitimiert oder ihn unterstützt, ist ein Verräter und ein Feind seines eigenen Volkes. Die Geschichte wird sie als solche nicht vergessen. Jeder Mensch, der von sich selbst behauptet, er sei demokratisch gesinnt oder sagt, er sei Syrer, unbedeutend dessen wo er lebt, muss sich diesem Rat widersetzen und dem Besatzer-Bündnis der Verräter entgegenwirken. Niemand darf dieses Vorgehen akzeptieren, erst recht das kurdische Volk nicht. Nirgends auf der Welt sollte diesen Leuten die Möglichkeit geboten werden, sich als Vertreter Efrîns zu präsentieren. Auch kurdische Parteien und Kräfte, die diese Verräter unterstützen, werden mit ihnen gleichgestellt, denn eine kurdische Macht sollte nicht den Versuch starten, Verräter zu legitimieren. Unser Volk sollte seine Haltung diesen Leuten gegenüber deutlich machen. Genaugenommen ist die Haltung unserer Bevölkerung bereits klar.

Sie sagten, dass Dreiviertel der Bevölkerung Efrîns aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Nach internationalem Völkerrecht gilt -sollte sich ein Land nicht gegen die Besatzung eines anderen Landes stellen- die Regel, dass die Menschen des besetzten Gebietes mit 100.000 Unterschriften gegen die Besatzung Klage bei internationalen Gerichten einreichen können. Dazu gibt es bereits Ihrerseits Aktivitäten, soweit ich weiß. Wieso schweigen bisher die internationalen Organisationen wie z.B. die Vereinten Nationen?

Als die Besatzungsangriffe auf Efrîn begonnen und die Vereinten Nationen sowie weitere internationale Institutionen keine Haltung gegenüber der Türkei und Russland eingenommen haben, wurde wieder einmal deutlich, dass es sich um formelle Organisationen handelt. Sie sind weit entfernt von Menschenrechten und Gesetzen. In Efrîn sind auch Chemiewaffen zum Einsatz gekommen, trotzdem haben sie geschwiegen. Aber als in Großbritannien ein ehemaliger russischer Agent vergiftet wurde, haben unzählige Länder im nächsten Augenblick die diplomatischen Beziehungen zu Russland eingestellt. Das ist ein weiteres Beispiel für die Doppelmoral dieser Organisationen. Lassen wir mal beiseite, dass sie sich nicht gegen die Besatzung gestellt haben. Diese Institutionen sind ihren Pflichten nicht nachgekommen, als ein ganzes Volk in die Flucht getrieben wurde. Wir als Bewegung und Selbstverwaltung erfüllen die Bedürfnisse dieser Menschen. Sie haben den Hilfsbedürftigen noch nicht mal eine Schachtel Medikamente geschickt.

Letzte Frage: Wie wird der weitere Verlauf des Widerstandes von Efrîn aussehen?

In Efrîn ist ein gewaltiger Widerstand an den Tag gelegt worden, der noch immer anhält. Egal wo sich unsere Menschen befinden; dieser Widerstand muss weiter gestärkt werden. Denn wir akzeptieren die Besatzung Efrîns in keiner Weise und werden uns weiterhin überall mobilisieren, um die Freiheit von Efrîn bewirken zu können. Mit tiefer Verbundenheit an die Helden und Gefallenen des Widerstandes von Efrîn werden wir unserem Volk den Sieg der Freiheit schenken. Daran glauben wir.