52 Festnahmen: Operation gegen HDK in Istanbul

Der HDK sei als parlamentsähnliches Gebilde aufgebaut worden, um als „Alternative“ zur Nationalversammlung zu agieren: Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul hat eine neue Struktur konstruiert, um die kurdische Zivilgesellschaft zu zerschlagen.

Neuer Schlag gegen Zivilgesellschaft

Während in der Türkei nach den jüngsten Gesprächen mit dem inhaftierten PKK-Begründer Abdullah Öcalan Hoffnungen auf einen Friedensprozess zur Lösung der kurdischen Frage aufkeimen, vergeht kaum ein Tag ohne neue Festnahmen und Inhaftierungen. Auch am Dienstag wurde die Repressionsschraube gegen die kurdisch-demokratische Opposition kräftig angedreht, über fünfzig Personen sind in zehn verschiedenen Provinzen auf Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul festgenommen worden. Der Vorwurf lautet auf „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“.

Verfahren gegen HDK

Bei den meisten Festgenommenen handelt es sich um Mitglieder und Aktivist:innen der Parteien DEM, DBP, EMEP, SYKP und YSP. Was ihnen konkret zur Last gelegt wird, ist unklar, da die Ermittlungsakte einer Geheimhaltungsklausel unterliegt und gegen die Betroffenen ein 24-stündiges Anwaltsverbot verfügt wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft teilte allerdings mit, dass sich die Ermittlungen gegen den Demokratischen Kongress der Völker (HDK) richten würden. In der Mitteilung wird das in der Türkei als legaler Verein handelnde Grassrootsgremium als „Tarnorganisation“ bezeichnet, die für das kurdisch-türkische Guerillabündnis „Vereinte Revolutionsbewegung der Völker“ (HBDH) auftreten würde.

Zivilgesellschaft als Bedrohung des Staates

Die oberste Anklagebehörde Istanbuls scheint eine neue Struktur konstruiert zu haben, um die Zivilgesellschaft und ihre Graswurzelbewegungen zu zerschlagen. Angeblich sei der HDK eine Fortsetzung des Gremiums „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (kurz KCD oder tr. DTK) und handele gleichermaßen „im Sinne der Ziele“ der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit „gegen den Staat“. Er sei in Form eines parlamentsähnlichen Gebildes aufgebaut worden, um als „Alternative“ zur türkischen Nationalversammlung zu agieren, und sei „inhaltlich und organisatorisch eindeutig identisch“ mit dem Paradigma der PKK – genannt wird auch deren Dachverband KCK – und damit „ohne jeden Zweifel terroristisch“. Dies würde auch daran deutlich, dass die Mitgliedsgruppen des HDK „Anweisungen der PKK/KCK zur Organisierung“ von Kundgebungen, Demonstrationen, Presseerklärungen und weiteren Veranstaltungen befolgten, „um die gesellschaftliche Basis zu formieren“.

Aktivist:innen, Kunstschaffende und Journalist:innen in Gewahrsam

Insgesamt hat die Staatsanwaltschaft 60 Personen zur Fahndung ausgeschrieben, 52 von ihnen befinden sich bereits in Gewahrsam. Unter ihnen sind die frühere Ko-Sprecherin des HDK Esengül Demir und die beiden Parteiratsmitglieder der DEM, Semiha Şahin und Mehmet Saltoğlu, die Sängerin Pınar Aydınlar, die Journalist:innen Yıldız Tar, Ercüment Akdeniz, Elif Akgül und Ender Imrek, der Maler Taner Güven und die Rechtsanwältin Nurcan Kaya.

Über den Demokratischen Kongress der Völker:  Der HDK wurde 2011 als Organisationsgremium hunderter politischer Parteien, Gruppen und Einzelpersonen gegründet, aus dem ein Jahr später die DEM-Vorgängerin HDP (Demokratische Partei der Völker) hervorging. Der Dachverband ist nicht als Partei aufgestellt, sondern hat eine Rätestruktur als Ausgangspunkt, durch die eine neue Form des Widerstandes entwickelt werden konnte, die den kurdischen Befreiungskampf mit dem Kampf linker, sozialistischer und feministischer Gruppen sowie der Ökologiebewegung in der Türkei vereint hat. Die Beschlüsse dieses Rates – etwa das Prinzip der demokratischen Selbstverwaltung, die Geschlechterparität, die Vertretung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen und queeren Menschen (LGBTIQ), Basisdemokratie und Rätestrukturen als Organisationsform – sind für die HDP beziehungsweise ihre Nachfolgerin DEM bindend.
Der Leitsatz des HDK lautet „Demokratische Republik und gemeinsame Heimat“. Das Gremium versteht sich als Motor der Demokratisierung in der Türkei und setzt sich für ein Ende von Unterdrückung, Ausbeutung, Polarisierung, Armut, Frauenfeindlichkeit und Verarmung ein. Hauptschwerpunkt des Engagements des HDK ist jedoch eine politische Lösung für die kurdische Frage, die als „Mutter aller Probleme“ begriffen wird, und die Realisierung von gesellschaftlichem Frieden. Unabdingbar dafür sei die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit ihm. 
Das Vorgehen der türkischen Justiz gegen den HDK mit Verweis auf den 2011 in Amed (tr. Diyarbakır gegründeten KCD – der als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen fungiert – steht symptomatisch für das Klima der Rechtsunsicherheit in der Türkei. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat in ihrem Urteil vom 22. Dezember 2020 zu Selahattin Demirtaş nicht nur die Freilassung des früheren HDP-Vorsitzenden angeordnet, sondern auch festgestellt, dass der KCD eine legale Organisation ist und die Betätigung für ihn kein Beweis für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sein könne. Der türkische Staat ignoriert EGMR-Urteile systematisch und so wurden in den vergangenen Jahren angebliche und reale Delegierte des KCD willkürlich als PKK-Mitglieder kriminalisiert und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die DEM befürchtet, dass selbiges Vorgehen nun auch Handelnde und Aktive des HDK treffen wird.