PYD-Vorsitzende: „Wir treten für ein pluralistisches Syrien ein“

Perwîn Yûsif wurde auf dem zehnten Kongress der PYD zur Ko-Vorsitzenden der Partei gewählt. Im Interview berichtet sie über Änderungen im Programm und betont den Anspruch, eine Partei für ganz Syrien zu sein.

Perwîn Yûsif

Die PYD ist eine der Trägerinnen der radikaldemokratischen Revolution in Nord- und Ostsyrien. Ihren ersten Kongress führte die PYD (Partei der demokratischen Einheit) 2003 in den kurdischen Bergen mit 185 Delegierten durch. Ihr zehnter Kongress fand nun mit 700 Delegierten in Hesekê statt. Das politische Programm der PYD wurde auf dem Kongress aktualisiert. Als Ko-Vorsitzende wurden Perwîn Mihemed Emîn Yûsif und Xerîb Hiso gewählt. Yûsif ist seit der Revolution aktiv in der PYD beteiligt. Die Tageszeitung Yeni Özgür Politika sprach mit der Ko-Vorsitzenden der PYD über den zehnten Kongress, die programmatischen Änderungen und die anstehenden Aufgaben.

Perwîn Mihemed Emîn Yûsif und Xerîb Hiso

Die PYD hielt Ende September ihren zehnten ordentlichen Kongress ab. In welcher Situation fand der Kongress statt?

Unser Kongress fand in einer Zeit heftiger Kriege im Nahen Osten und auf der ganzen Welt statt, einer Zeit, in der sich Veränderungen und Umwälzungen vollziehen. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Phase. Wir haben einen Kongress abgehalten, um auf die außerordentlichen Entwicklungen im Nahen Osten und in Kurdistan zu reagieren und um unser Volk und unsere Kräfte in Einklang mit den Veränderungen zu organisieren. Die Vorgänge im Nahen Osten und in unserem Land sind in jeder Hinsicht bedeutsam. In diesem Prozess betrachteten wir den Kongress als eine Gelegenheit, unser Volk und unsere organisierte Kraft im Einklang mit den Entwicklungen neu zu formieren und zu organisieren. Es war ein wichtiger Kongress, um in die Zukunft auf neuer Basis fortzuschreiten und Mängel und Unzulänglichkeiten aufzudecken. Wir haben den zehnten Kongress im Geiste des ersten Kongresses vor 21 Jahren durchgeführt. Die PYD spielte damals mit ihren Plänen, Projekten und ihrer Organisationsarbeit eine Vorreiterrolle, die weit über die bestehenden Strukturen hinausging. Der zehnte Kongress bot die Chance, diesen Geist zu reorganisieren, um unserem Volk dauerhaften Frieden zu bringen und integrativer zu werden. Wir haben diesen Kongress als Gelegenheit genutzt, um mit den sich verändernden Weltbedingungen Schritt zu halten und entsprechend der neuen Dynamik zu arbeiten.

Auf dem Kongress wurde die Satzung geändert. Warum war das notwendig, was ist das Ziel der Satzungsänderung?

Die PYD hat mit der Revolution vom 19. Juli 2012 in Rojava eine Basis gefunden und sich organisiert. Ihr politisches Projekt wird von Organisationen und Menschen in Syrien akzeptiert. In diesem Sinne wurden einige Änderungen an unserem Statut vorgenommen, um die Völker in der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien sowie alle Völker in Syrien einzubeziehen, zu integrieren und ihnen eine Perspektive zu bieten. Das vor 21 Jahren unter Berücksichtigung der damaligen Bedingungen ausgearbeitete Statut genügte den heutigen Anforderungen nicht mehr. Mit dem neuen Statut wollen wir auf diesen Prozess reagieren und unsere Aktivitäten in einen größeren Rahmen stellen. Darüber hinaus wurden einige Artikel hinzugefügt, um den Menschen, die aufgrund der Konflikte ihr Land verlassen mussten und nach Südkurdistan, Damaskus, in den Libanon und nach Europa gegangen sind, die Möglichkeit zu geben, sich in Räten zu organisieren und wieder zurückzukehren. Es wurden also Änderungen am Statut vorgenommen, um alle zu erfassen und auf die Entwicklungen zu reagieren.

Sie haben Ihr Amt mit dem zehnten Kongress angetreten, was werden Ihre Prioritäten sein? Welche Politik werden Sie verfolgen?

Die PYD spielte eine sehr wichtige Rolle beim Aufbau und der Entwicklung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Sie war gewissermaßen der Wegbereiter dieser Revolution. Unsere Partei hat eine Vorreiterrolle übernommen, indem sie alle in der Region lebenden Völker einbezogen und organisiert hat. Wir wollen uns diplomatisch und politisch für die Anerkennung der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien im Nahen Osten und in der Welt einsetzen und eine Politik betreiben, die der Menschen, die unserer Partei und unserem Programm vertrauen, würdig ist. Wir werden mit aller Kraft für unser Volk da sein und Lösungen für seine Probleme suchen. Mit unserer Politik wollen wir die Entwicklung der demokratischen und politischen Grundlagen, den Schutz der Natur und die Rechte der Gesellschaft verteidigen. Wir werden eine Politik entwickeln, die sich gegen die Angriffe auf unser Volk stellt und die verhindert, dass unser Volk in den Kriegen in der Welt zu Schaden kommt. Wir wollen in unserer Region Vorreiterarbeit für die Entwicklung des Projekts der demokratischen Nation leisten. Damit dieses Projekt von Dauer ist, haben wir uns Aktivitäten wie Versammlungen und Seminare vorgenommen.

Die PYD ist Mitglied der Sozialistischen Internationale und unterhält Beziehungen zu zahlreichen internationalen Organisationen. Welche Art von diplomatischen Kontakten haben Sie?

Parteien aus 154 Ländern sind wie wir Mitglieder der Sozialistischen Internationale. Was diese Menschen zusammenbringt, sind gemeinsame Werte und eine Politik, durch die die Menschenrechte verteidigt werden, die Natur geschützt und eine ethische Gesellschaft geschaffen werden soll. Auf der Grundlage dieser Werte unterhalten wir Beziehungen zu Parteien aus 154 Ländern. Bis jetzt haben wir alle unsere Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber der Sozialistischen Internationale erfüllt. Die Sozialistische Internationale trifft sich einmal im Jahr. Auf der Tagung im nächsten Jahr werden wir den Prozess abschließen, in dem wir ständiges Mitglied werden. Wir haben Ideen, um einige Projekte zusammen mit den Mitgliedern der Sozialistischen Internationale zu entwickeln. Wir setzen unsere Gespräche mit Mitgliedsparteien fort, mit denen wir in Bezug auf Frauen, Demokratie, Menschenrechte und Naturschutz bei Projekten übereinstimmen. Über diese Beziehungen werden wir unsere Initiativen für einen dauerhaften Frieden und Demokratie im Nahen Osten fortsetzen und eine Anerkennung der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien auf internationaler Ebene, insbesondere im Nahen Osten, einzufordern.

Welche Hindernisse erleben Sie bei der diplomatischen Arbeit und wie werden Sie versuchen, diese zu überwinden?

Vom ersten Tag an war die Türkei das größte Hindernis für unsere diplomatischen Bemühungen. Die Türkei versucht, jeden unserer Schritte auf diplomatischem Gebiet zu blockieren. Dazu setzt sie ihre gesamte politische und wirtschaftliche Macht ein. Sie beschuldigt uns auf der internationalen Bühne des „Terrorismus“ und versucht mit all ihren Mitteln, unsere diplomatischen Bemühungen zu vereiteln. Sie verhängt selbst ein Embargo und nutzt ihre wirtschaftliche Macht, um anderen Ländern ein Embargo aufzuzwingen. Die Türkei will eine Lösung der kurdischen Frage dauerhaft verhindern. Um zu verhindern, dass die Kurden in Nord- und Ostsyrien einen Status erhalten, hält sie jedes Mittel für zulässig. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben große Opfer im Kampf gegen den IS gebracht und die Region stabilisiert. Die Türkei und das syrische Regime haben mit aller Macht daran gearbeitet, die Region zu destabilisieren. Heute bemüht sich die Türkei gemeinsam mit dem syrischen Regime, die Region weiter ins Chaos zu stürzen und die Revolution in Nord- und Ostsyrien zu vernichten. Syrien und die Türkei stehen allen Schritten im Weg, die wir auf der internationalen Bühne unternehmen, um die Revolution auch auf dieser Ebene zu verankern.

Werden Sie sich für die internationale Anerkennung der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien einsetzen?

Das Projekt der Selbstverwaltung ist ein strategisches Projekt für die Verwirklichung der Revolution, die Lösung der bestehenden Probleme und die Errichtung einer Demokratie. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass das Projekt der Selbstverwaltung in ganz Syrien umgesetzt und akzeptiert wird, um die Probleme in Syrien zu lösen. Wir unternehmen große Anstrengungen, damit unser Projekt im Nahen Osten nachhaltig ist und international anerkannt wird. Wir wollen die Selbstverwaltung nicht auf eine Region beschränken und uns als einen kleinen Teil davon sehen. Die Selbstverwaltung hat bei der Lösung von Problemen in unserer Region Pionierarbeit geleistet. Wir wollen das Projekt der Selbstverwaltung weiterentwickeln und auf ganz Syrien anwenden und so den Syrienkonflikt lösen. Die einzige Lösung für die Syrienkrise ist die von uns entwickelte Selbstverwaltung.

Werden Sie sich in der kommenden Zeit für die Befreiung von Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê einsetzen?

Wir arbeiten für die Befreiung von ganz Syrien. Wir sind ein Teil von Syrien. Wir wollen, dass die Probleme in Syrien im Dialog gelöst werden und die Konflikte beendet werden. Wir sind entschlossen, ganz Syrien einschließlich Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê, Cerablus, al-Bab und Azaz zu befreien, und machen da keine Abstufung. Heute sind nicht nur die kurdischen Gebiete, sondern große Teile Syriens besetzt. Den Menschen werden alle möglichen Gräuel angetan. Frauen werden vergewaltigt und die Natur wird vor den Augen der Welt vernichtet. Wir betreiben diplomatische Arbeit, um Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê, Cerablus, al-Bab und Azaz zu befreien. Wir sind dabei sowohl mit dem syrischen Regime als auch international in Gesprächen. Unser Volk soll keinen Zweifel daran haben, dass wir unser Land mit allen Mitteln befreien werden und dass wir uns für die Rückkehr der Vertriebenen einsetzen werden.

Die Selbstverwaltung ist seit ihrer Gründung Angriffen aus der Türkei ausgesetzt. Was werden Sie tun, um diese Angriffe zu stoppen?

Die AKP-Regierung hatte seit dem ersten Tag der Syrienkrise ihre Finger im Spiel. Wie ein Dieb stahl sie die sich in Syrien entwickelnde Revolution und versuchte, sie zu ihren eigenen Gunsten zu wenden. Sie spielte eine sehr negative Rolle. Indem sie ihre eigenen Söldner organisierte und ihre wirtschaftliche und politische Macht einsetzte, verfolgte sie eine Politik, um alle Entwicklungen zu ihren Gunsten zu wenden und sich Vorteile zu verschaffen. Die Türkei übte durch ihre Söldner immer stärkeren Druck auf uns in Nord- und Ostsyrien aus und warf auch ihr eigenes Gewicht mit in die Waagschale. Vom ersten Tag an bis heute wurden führende Politikerinnen und Politiker ins Visier genommen und Attentate verübt. Der türkische Staat versucht, die Menschen hier in Angst und Schrecken zu versetzen, indem er ihre Siedlungen bombardiert. Unser Volk hat sich der Türkei widersetzt und ist nicht zurückgewichen. In der aktuellen Phase ist dieser Plan der Türkei durchkreuzt worden. Wir ziehen unsere Kraft aus der Bevölkerung. Wir werden unsere Verteidigungskräfte YPG, YPJ und QSD stärken und gleichzeitig unsere Region stärker schützen, indem wir die Bevölkerung in die Verteidigung einbeziehen. Wir wollen ein dezentrales, demokratisches Syrien, in dem sich alle Völker und Minderheiten wiederfinden können.

Wie ist der Stand der Verhandlungen mit dem syrischen Regime? Haben Sie als PYD irgendwelche Beziehungen zum Regime in Damaskus?

Als PYD haben wir keine direkten Beziehungen zum syrischen Regime. Alle Verhandlungen und Gespräche werden über die Selbstverwaltung geführt. Auch Mitglieder unserer Partei haben an den Verhandlungen mit dem Regime teilgenommen. Eine Zeitlang gab es Fortschritte. Aber das Regime sieht die Entwicklungen nicht. Es tut so, als ob seine alte Ordnung so weiter gehen könne. Als das Regime die Idee vorbrachte, zum Status quo ante 2011 zurückzukehren und klarstellte, dass es die Revolution und die Selbstverwaltung nicht anerkennt, sind die Verhandlungen abgebrochen. Seit drei Jahren haben keine Gespräche mehr stattgefunden.

Das Regime versucht erneut, sein altes System zu etablieren, indem es die Konflikte im Nahen Osten nutzt. Der Versuch, in Deir ez-Zor Chaos und Konflikte zu stiften, diente diesem Ziel. Zurzeit verfolgt das syrische Regime eine Politik des Krieges statt des Dialogs.

Wie die Selbstverwaltung vor einem Jahr erklärte, sind wir bereit, mit allen Kräften im Zusammenhang mit der Syrienkrise in einen Dialog zu treten. Vorausgesetzt, dieser Dialog kommt den in Syrien lebenden Völkern zugute und führt zu einer Beendigung des Konflikts. Als PYD unterstützen wir die Haltung der Selbstverwaltung voll und ganz.

Das größte Problem unter den kurdischen Parteien ist die fehlende Einigkeit. Bedauerlicherweise ist die gewünschte Einheit bisher nicht erreicht worden. Werden Sie als PYD eine Initiative ergreifen?

Die Kurdinnen und Kurden haben ihre Errungenschaften unter großen Opfern gewonnen. Der einzige Weg, diese Errungenschaften zu schützen und auszubauen, ist eine kurdische Einheit. Sie liegt uns sehr am Herzen und muss verwirklicht werden. Weil sie sich nicht einigen können, sind die Kurden noch immer nicht frei. Wir fordern eine Einheit und arbeiten permanent daran, sowohl in Rojava als auch in den anderen Teilen Kurdistans. Bislang haben unsere Bemühungen nicht ausgereicht. Das bedeutet, dass wir noch beharrlicher und auf andere Weise arbeiten müssen. Ich möchte noch einmal betonen, dass wir zu jeder Art von Verhandlung bereit sind, um eine kurdische Einheit so schnell wie möglich zu erreichen.

Die Wahlen, die in Nord- und Ostsyrien stattfinden sollten, wurden verschoben. Wird weiter an der Organisation von Kommunalwahlen gearbeitet? Wie wird sich die PYD auf die bevorstehenden Wahlen vorbereiten?

Was auch immer die Selbstverwaltung für die Wahlen beschließt, wir akzeptieren es und handeln danach. Der Oberste Wahlrat hat entschieden, dass jeder Kanton Wahlen abhalten kann, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Als PYD sind wir bereit, jede Aufgabe zu übernehmen, die uns zufällt, damit die Wahlen in einem freien Umfeld stattfinden und Kandidierende aufgestellt werden können, die die Bevölkerung repräsentieren.