Rojava entwaffnen und Erdogans Dschihadisten ausliefern?

Statt einer Entwaffnung der Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens braucht es dringend diplomatischen Einsatz für die Region. Baerbocks Forderungen bedeuten die Auslieferung von Rojava an die Willkür der Dschihadisten.

Kommentar von Civaka Azad

Am selben Tag, an dem die gezielte Tötung der beiden kurdischen Journalist:innen Nazım Daştan und Cîhan Bilgin durch eine türkische Drohne bekannt wurde und die Angriffe auf die Front bei Kobanê durch die aus Dschihadisten zusammengestellten türkeitreuen SNA-Söldnergruppen toben, forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Entwaffnung der Verteidigungskräfte von Nord- und Ostsyrien. Diese Forderung bedeutet nichts anderes, als den Menschen in Nord- und Ostsyrien ihr Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen und der Willkür des Erdogan-Regimes und seiner islamistischen Söldner auszusetzen.

Die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben sich als einzige effektive Kraft und Speerspitze im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) bewiesen und dafür hohe Opfer erbracht. Trotz dieser historischen Rolle fordert Annalena Baerbock die Entwaffnung jener Kräfte, die weiterhin versuchen, ein Wiedererstarken islamistischer Milizen zu verhindern. Diese Forderung kommt zu einer Zeit, in der mehr als 200.000 Menschen vor dem islamistischen Terror und den Angriffen der Türkei auf die zivile Infrastruktur der Region fliehen.

Erstarken des IS wird zur reellen Gefahr

Die Verteidigungskräfte von Nord- und Ostsyrien bewachen derzeit Zehntausende gefangene IS-Dschihadisten und ihre Angehörigen. Eine Entwaffnung dieser Kräfte könnte dazu führen, dass diese Gefangenen von protürkischen Söldnern befreit und erneut zu einer großen Bedrohung werden. Die aktuellen Angriffe der Türkei und ihrer islamistischen Söldner verstärken bereits jetzt die Gefahr von Massenausbrüchen in den Haftanstalten. Eine Entwaffnung der Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens würde es dem IS ermöglichen, seine Aktivitäten wieder aufzunehmen und nicht nur Syrien, sondern die gesamte Welt zu bedrohen.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock betonte zudem nach ihrem Treffen mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan auf Instagram, dass die Sicherheit der Kurd:innen in Syrien auch für den türkischen Außenminister Hakan Fidan von essenzieller Bedeutung wäre. Dabei lässt sie unerwähnt, dass Hakan Fidan in seiner früheren Rolle als Chef des türkischen Geheimdienstes MIT für zahlreiche Verbrechen an Kurd:innen wie Folter, Mord, Hinrichtungen, Entführungen im In- und Ausland und Bespitzelung mitverantwortlich war. Fidan war zudem ein zentraler Akteur bei der Unterstützung islamistischer Milizen und ist als einer der engsten Berater Erdoğans für seinen aggressiven Kriegskurs gegenüber Kurd:innen bekannt.

Anerkennung statt Entwaffnung der Selbstverwaltung

Statt einer Entwaffnung der Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens braucht es dringend diplomatischen Einsatz für die Region. Dazu sind klare Worte aus Deutschland für die Beendigung der türkischen Angriffe und der Zusammenarbeit Ankaras mit islamistischen Milizen notwendig. Die Bundesregierung sollte zudem die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) anerkennen.

Die Forderungen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nach Einbeziehung der Selbstverwaltung in eine zukünftige Neuordnung Syriens sind sinnvoll. Allerdings erscheint ihr Lob des Widerstands von Kobanê angesichts der aktuellen Praxis der Bundesregierung eher wie ein Ablenkungsmanöver. Die Bundesregierung führt offiziell Gespräche mit Ankara, den USA und sogar mit der islamistischen HTS, die in Deutschland als Terrororganisation gelistet ist. Eine Delegation des Auswärtigen Amtes hat bereits die Dschihadisten besucht. Während Gespräche wichtig sind, werden die Vertreter:innen des demokratischen Projekts in Syrien, die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, weiterhin boykottiert. Dies wirft die Frage auf, ob die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit den Großmachtinteressen des Regimes in Ankara dem Aufbau eines demokratischen Syriens vorzieht.

Erst wenn die Prinzipien der DAANES, das heißt die demokratische Selbstverwaltung der Gesellschaft, die Gleichberechtigung der Volks- und Religionsgemeinschaften sowie die Errungenschaften der Frauenbefreiung anerkannt werden, kann über eine Integration der Verteidigungskräfte gesprochen werden. Eine solche Forderung zum jetzigen Zeitpunkt zu erheben, wie es Annalena Baerbock bei ihrem Staatsbesuch in der Türkei getan hat, kommt der Forderung nach Selbstaufgabe der DAANES gleich. Warum die deutsche Außenministerin diese Forderung an die Demokratischen Kräfte Syriens, einschließlich der Frauenverteidigungseinheiten der YPJ, und nicht an die verschiedenen islamistischen Gruppen unter türkischer Obhut richtet und wie dies mit ihrem Credo einer „feministischen Außenpolitik" vereinbar ist, bleibt rätselhaft.

Der Kommentar ist dem neuen Newsletter von Civaka Azad entnommen