Einordnung der diplomatischen Gespräche zu Syrien

Seit dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien werden in allen Teilen Kurdistans Gespräche mit unterschiedlichen politischen Kreisen geführt. Ilham Ehmed, Außenbeauftragte der DAANES, ordnet deren Bedeutung in einem Interview ein.

Außenbeauftragte Ilham Ehmed

Im Nahen Osten haben sich in den letzten Monaten Entwicklungen vollzogen, die die ganze Welt beeinflussen werden. Eine dieser Entwicklungen ist der Sturz des 61-jährigen Baath-Regimes in Syrien innerhalb von zwölf Tagen. Seitdem wurden unterschiedliche Gespräche zur Zukunft Syriens mit diversen Parteien und Personen aus der Politik in allen Teilen Kurdistans geführt. Auf diplomatischem Wege zu einer demokratischen und friedlichen Lösung zu kommen, scheint hierbei das leitende Ziel zu sein.

Ilham Ehmed ist die Außenbeauftragte der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES). In einem Interview mit der Frauennachrichtenagentur NuJINHA äußerte sie sich zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien, deren möglichen Auswirkungen auf den Nahen Osten, und auch zu den Treffen der DEM-Partei mit dem kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan in der Türkei.

Der Sturz des Regimes hat schwerwiegende Probleme nicht gelöst

Der Sturz des Regimes, das mehr als 60 Jahre lang an der Macht war, hat viele schwerwiegende Probleme ungelöst gelassen, erklärte Ilham Ehmed: „Das 61 Jahre alte baathistische Regime wurde innerhalb von zwölf Tagen von der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) gestürzt. Die Probleme der Frauen sind nach wie vor tief in der Gesellschaft verwurzelt, weil die Rechte der Frauen nicht in der Verfassung verankert sind. Es gibt kein Gesetz, das sie vor Gewalt schützt. Eine weitere Problematik ist die der Nation und der Religion. Auch die kurdische Frage ist ein ungelöstes Problem. Das baathistische Regime hat den Chauvinismus in der Gesellschaft vertieft, indem es alle ethnischen und religiösen Identitäten ignoriert hat.“

Uneinigkeit über Dezentralisierung Syriens

Ilham Ehmed äußerte sich auch zu den Gesprächen zwischen der HTS-geführten Übergangsregierung und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD): „Wir können nicht darüber diskutieren, was sie wollen oder was wir wollen. Das Wichtigste ist, dass wir uns auf die territoriale Integrität Syriens einigen. Beide Parteien sind sich darüber einig, dass es eine einzige Armee in Syrien geben sollte. Allerdings gibt es Meinungsverschiedenheiten über die Dezentralisierung des Landes. Wir sind überzeugt, dass ein dezentralisiertes System die Rechte aller ethnischen und religiösen Identitäten gewährleisten wird. Ein dezentralisiertes Syrien wird in der Lage sein, alle Probleme zu lösen, unter denen das Land leidet. Syrien muss dezentralisiert werden, um das Blutvergießen zu beenden und Demokratie und Freiheit zu erreichen.“

Türkei sichert sich Kontrolle in Syrien

„Nach dem Sturz des Assad-Regimes besuchte der Außenminister der Türkei, Hakan Fidan, Damaskus, um eine türkische Kontrolle bezüglich Syriens zu sichern. Da der syrische Luftraum für die Türkei offen ist, greifen türkische Drohnen und Kampfflugzeuge Nord- und Ostsyrien an“, bewertet Ehmed die Einmischung der Türkei. Sie geht davon aus, dass der türkische Staat für die Ministerien wie auch für weitere Positionen in der Übergangsregierung Berater ernannt habe, die Anweisungen geben: „Mit anderen Worten: Der türkische Staat hat seinen 500-jährigen Traum in die Tat umgesetzt. Diese Situation stellt eine Bedrohung für alle Identitäten in Syrien dar. Die Türkei muss die Grenzen Syriens anerkennen und sich danach richten.“

Das kurdische Volk sollte sich unterstützen

Ilham Ehmed sprach auch über die Bedeutung des Treffens zwischen Mazlum Abdi, dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), und dem Vorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Mesûd Barzanî, in der Kurdistan-Region des Irak Mitte Januar: „Das Treffen war sehr wichtig für die Einheit des kurdischen Volkes. Es wurde über die Zukunft der Kurd:innen in Syrien gesprochen. Wir denken, dass die Unterstützung der Regierung und der politischen Parteien in Südkurdistan für das kurdische Volk in Rojava sehr wichtig ist. Wir hoffen, dass es in Zukunft weitere Treffen geben wird. Das kurdische Volk sollte sich immer gegenseitig unterstützen.“

Das Schicksal des Nahen Osten wird neu gestaltet

Zu den jüngsten Treffen der DEM-Partei mit dem PKK-Begründer Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali sagte Ehmed: „Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Schicksal nicht nur Nord- und Ostsyriens, sondern auch des Nahen Ostens insgesamt neu gestaltet wird. Deshalb sind die Treffen mit Herrn Abdullah Öcalan sehr wichtig. Herr Öcalan hat große Anstrengungen unternommen, um das Schicksal aller Kurd:innen zu lösen.“

Heute entscheidet sich die Zukunft Syriens

Die DAANES-Außenbeauftragte Ilham Ehmed schloss ihre Rede mit den Worten: „Heute ist der Tag, an dem sich die Zukunft Syriens entscheidet. Alle Menschen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, um ein demokratisches Syrien aufzubauen. Heute ist nicht der Tag, um zu klagen, sondern um sich zu verbünden. Was auch immer notwendig ist, muss getan werden; nicht nur in Nord- und Ostsyrien, sondern auch in Süd-, Nord- und Ostkurdistan sowie in anderen Ländern. Wir müssen uns vereinen, um ein demokratisches Syrien aufzubauen, das alle ethnischen und religiösen Identitäten respektiert.“

Foto © JINHA