Wegen des Todes eines armenischen Bauern nach Folter in Gefangenschaft hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Alijew-Regime in Aserbaidschan verurteilt. Die Behörden hätten gegen das Folterverbot verstoßen sowie gegen das Grundrecht auf Schutz des Lebens, befand das Straßburger Gericht bereits in der vergangenen Woche. Die Regierung in Baku wurde angewiesen, den Hinterbliebenen des Folteropfers insgesamt 40.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen (Az.: 62161/14).
Der damals 77-jährige Landwirt Mamikon Khojoyan verließ am Morgen des 28. Januar 2014 sein Haus in einem Dorf in der armenischen Provinz Tawusch nahe der aserbaidschanischen Grenze, um Trauben zu sammeln. Zwei Tage später wurde in den aserbaidschanischen Nachrichten berichtet, dass er als „bewaffneter Führer einer armenischen Sabotagegruppe“ festgenommen worden sei. Nach Vermittlung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wurde Khojoyan am 4. März an die armenischen Behörden übergeben. In einer gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte man „lebensgefährliche, schwere Verletzungen“ an seinem Körper fest. Zehn Wochen später verstarb Mamikon Khojoyan.
EHRAC: Misshandlungen ein „endemische Problem“
Jessica Gavron, Geschäftsführerin der an der juristischen Fakultät der Londoner Middlesex University ansässigen Menschenrechtsorganisation EHRAC, bezeichnete den Tod des armenischen Bauern als „schockierend“. Der Fall werfe ein Schlaglicht auf die unschuldigen Opfer der anhaltenden Spannungen zwischen Aserbaidschan und Armenien und auf das „endemische Problem“ der Misshandlungen durch die Strafverfolgungsbehörden und das Militär in Aserbaidschan, für die es keine Konsequenzen gebe.
EGMR: „Misshandlungen kamen der Folter gleich“
Drei Kinder von Mamikon Khojoyan hatten im September 2014 Klage beim EGMR eingereicht. Sie kritisierten, dass ihr Vater durch die erlittene Folter schwer verletzt wurde, die Täter jedoch nicht verfolgt worden seien. Darüber hinaus rügten sie die illegale Inhaftierung des Mannes, die ausschließlich auf „ethnischer Diskriminierung“ beruht habe. In seinem Urteil vom 4. November stellt der EGMR fest, dass das Recht von Mamikon Khojoyan auf Leben sowie auf Freiheit und Sicherheit verletzt wurde und dass die Misshandlungen, denen er ausgesetzt war, „der Folter gleichkamen“. Am Tag seiner Festnahme wurde im Internet ein Video des Landwirts veröffentlicht, auf dem er keine Anzeichen von Verletzungen zeigte und sich ohne Schwierigkeiten bewegen konnte. In dem Fernsehbericht zwei Tage nach seiner Festnahme hatte er einen Gipsarm und in einer Sendung am folgenden Tag zeigte er Schwierigkeiten damit aufrecht zu stehen und wies sichtbare Verletzungen auf.
„Verletzungen an Kopf, Rippen, Armen und anderen Körperteilen“
Als Khojoyan im März 2014 nach Armenien zurückkehrte, wurde er in ein Krankenhaus gebracht, wo bei Untersuchungen zahlreiche Verletzungen an Kopf, Rippen, Armen und anderen Körperteilen festgestellt wurden. Gerichtsmediziner:innen fanden zudem eine Schusswunde in seinem Arm. Der EGMR sah die Version der aserbaidschanischen Regierung, Mamikon Khojoyan sei angeschossen worden, als er versucht hätte, sich seiner Festnahme zu entziehen, aufgrund des Videobeweises als widerlegt an.
Mamikon Khojoyan | Foto: EVN-Report
Die Gerichtsmediziner:innen berichteten auch über eine Reihe von Wunden, Kratzern und Brüchen, die „in ihrer Gesamtheit eine lebensgefährliche schwere Körperverletzung verursachten“. Aus dem Bericht geht hervor, dass einige dieser Verletzungen durch einen stumpfen Gegenstand und andere durch ein scharfes Schneideinstrument zugefügt wurden. Bei einer chemisch-forensischen Untersuchung wurden außerdem Petroleum und Apaurin im Blut und Urin des Armeniers nachgewiesen. Bei Apaurin handelt es sich um ein starkes eng mit Valium verwandtes Beruhigungsmittel.
Die Kriminalpolizei in der armenischen Hauptstadt Eriwan leitete aufgrund des Zustands von Mamikon Khojoyan eine Untersuchung wegen „vorsätzlicher Körperverletzung mit besonderer Grausamkeit und mit Motiven des nationalen, rassischen oder religiösen Hasses oder Fanatismus“ ein. Während der Ermittlungen gab einer von Khojoyans Töchtern an, ihr Vater habe auf sie im Krankenhaus sehr verängstigt gewirkt. Er habe unzusammenhängend gesprochen und ihr Einzelheiten über seine Misshandlungen erzählt, unter anderem hatte er von schweren Schlägen und Verbrennungen berichtet.
„Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt“
In seinem Urteil stellt der EGMR fest, dass die aserbaidschanischen Behörden Mamikon Khojoyans Recht auf Leben, das durch Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt ist, verletzt haben. Die Behandlung des Mannes während seiner Inhaftierung sei ihrem Wesen nach gefährlich gewesen und habe ihn in reale und unmittelbare Gefahr gebracht, heißt es. Die Misshandlungen, denen er ausgesetzt wurde, „kamen der Folter gleich“, was einen Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK darstellt. Darüber hinaus habe die aserbaidschanische Regierung keinerlei Informationen vorgelegt, die unterstützen würden, Khojoyan „als Kriegsgefangener zu betrachten“ sei, so der EGMR. Damit liegt ein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das in Artikel 5 EMRK garantiert ist, vor.
Unter Hinweis auf den „allgemeinen Kontext der Feindseligkeit und der Spannungen“ zwischen Armenien und Aserbaidschan entschied der europäische Gerichtshof, dass die aserbaidschanischen Behörden eine Untersuchung hätten durchführen müssen, um festzustellen, „ob ethnischer Hass eine Rolle bei der Behandlung von Mamikon Khojoyan gespielt hat, die sein Leben in Gefahr brachte“.
Das aserbaidschanische Regime an der Leine Erdoğans
Aserbaidschan stellt einen der Vasallenstaaten der Türkei im Mittleren Osten dar. Entsprechend seinem panturkistischen Führungsanspruch hat das AKP/MHP-Regime den armenischen Diktator Ilham Alijew weitgehend militärisch abhängig von Ankara gemacht. So hatte die Türkei durch Aserbaidschan Ende 2020 Krieg gegen Armenien geführt. Unzählige türkische Soldaten, Dschihadisten aus Syrien und modernstes türkisches Kriegsgerät, vor allem Killerdrohnen, unterstützten Alijew bei der Annexion von Teilen der armenisch geprägten Region Arzach (Bergkarabach). Nach sechswöchigem Krieg mit mehr als 6.500 Toten vereinbarten Armenien und Aserbaidschan am 9. November 2020 einen von Russland vermittelten Waffenstillstand.