Wegen Imamoğlu-Protesten verhaftete Studenten
Im Strafvollzugskomplex Marmara bei Istanbul werden im Zuge der Proteste gegen die Festnahme des mittlerweile abgesetzten Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu inhaftierte Studierende offenbar systematisch nach politischen Kriterien in sogenannte „organisierte“ und „nicht organisierte“ Gruppen getrennt. Dies berichten die Anwälte Ahmet Ergin und Mahmut Birdal, die die Betroffenen über die Feiertage im Fastenmonat Ramadan hinweg regelmäßig besuchten. Zudem beklagten sie Misshandlungen und unzumutbare Haftbedingungen.
Politisch motivierte Trennung der Zellen
Laut Rechtsanwalt Ahmet Ergin, Mitglied des Vorstands der Anwaltskammer Istanbul, wurden die inhaftierten Studierenden nach Art ihrer Verhaftung in unterschiedliche Zellen eingewiesen: Jene, die bei Hausdurchsuchungen festgenommen wurden, gelten als politisch organisiert und wurden von anderen Studierenden getrennt, die bei Demonstrationen in Saraçhane aufgegriffen wurden. Dies gleiche einer politischen Kategorisierung in „organisierte“ und „nicht organisierte“ Studierende durch die Gefängnisleitung, so Ergin.
Polizeigewalt und fehlende medizinische Versorgung
Besonders alarmierend: Zwei Studierende, die infolge von Polizeigewalt teils schwere Verletzungen erlitten – darunter gebrochene Rippen und eine verschobene Metallplatte im Arm – wurden bisher nicht in ein Krankenhaus überwiesen. Lediglich ein weiterer Student mit einem Beinbruch wurde laut Ergin bislang medizinisch behandelt.

Der Gefängniskomplex Marmara, der 2008 als Strafvollzugskomplex Silivri eröffnet wurde, gilt als größtes Gefängnis in Europa und ist berüchtigt für Übergriffe, Schikanen und Gewalt. Offiziell heißt der westlich von Istanbul gelegene Bau „Campus der Strafvollzugsanstalten Marmara“. Auf dem Gelände gibt es zehn einzelne Haftkomplexe mit Mehrpersonen- als auch Einzelzellen, auch für Frauen, dazu ein Krankenhaus und mehrere Gerichtssäle. Die Patrouillenstraße um das Gelände umfasst ein Gelände etwa so groß wie 200 Fußballplätze. Außerhalb der Mauern befinden sich 500 Dienstwohnungen für die Beschäftigten. Die Regierungsangaben über die Kapazität schwanken zwischen 10.000 und 13.000 Insassen. Menschenrechtsorganisationen weisen demgegenüber immer wieder auf eine Überbelegung der Zellen hin. Oppositionelle beschreiben den Komplex als Internierungslager, weil dort hauptsächlich Erdoğan-Kritiker:innen eingesperrt werden: Medienschaffende, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Jurist:innen und andere führende Köpfe der Zivilgesellschaft. Aktuell sitzen in Silivri mehr als 15.000 Gefangene ein, mehrere neue Gefängnisse sind in Planung © Türkisches Ministerium für Justiz
Schikanen in der Haft: Zwangsrasuren und Schlafmangel
Die drei betroffenen männlichen Studenten, die zunächst in einer Zelle für Häftlinge mit Bezug zu Allgemeinkriminalität untergebracht waren, berichteten den Anwälten von entwürdigenden Schikanen. Ihnen sei nahegelegt worden, sich die Haare an den Seiten zu rasieren, sie seien zu Putzarbeiten gezwungen worden. Einer von ihnen schilderte, dass der „Zellenverantwortliche“ Druck ausgeübt habe, das sei übliche Praxis bei Neuzugängen.
Rechtsanwalt Mahmut Birdal gab an, dass im Fall der drei Studenten Berichte über Folter nicht zutreffen würden, bestätigte jedoch Misshandlungen und gab an, dass den jungen Männern unter anderem das Sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen untersagt und Reinigungspflichten auferlegt wurden. Er sprach von psychischem Druck und einem stark hierarchischen System innerhalb der Zelle.
Überbelegung und mangelhafte Haftbedingungen
Die aktuell in einer anderen Zelle untergebrachten Studierenden teilen sich ihren neuen Haftraum mit rund 58 weiteren Personen – deutlich mehr als vorgesehen. Schlafplätze auf dem Boden und ein rotierender Schlafrhythmus seien inzwischen notwendig geworden, so Birdal. „Die Gefängniskapazität ist klar überschritten“, sagte er.
Bildung behindert – aber Moral bleibt hoch
Die Inhaftierung wirkt sich auch massiv auf den Bildungsweg der Studierenden aus: Laut Birdal konnten sie an Prüfungen nicht teilnehmen, Bücher und Lernmaterialien wurden erst nach Durchsicht durch die Gefängnisleitung ausgehändigt. Trotz allem sei die Stimmung unter den Studierenden stabil. „Sie sind sich ihrer Lage bewusst, wissen, dass sie im Recht sind – und richten ihren Blick auf die Kämpfe draußen“, sagte Birdal. Die jungen Menschen hofften, bald zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung zurückkehren zu können.
Über 300 Studierende wegen Protesten verhaftet
Die Festnahme und anschließende Inhaftierung des CHP-Politikers Ekrem Imamoğlu vor rund zweieinhalb Wochen wegen vermeintlichem Korruptionsverdacht und Terrorvorwürfen hat die Türkei in eine schwere politische Krise gestürzt. Hunderttausende gingen in der Folge bei Protesten gegen die Erdoğan-Regierung auf die Straße – es sind die größten regierungsfeindlichen Proteste in der Türkei seit dem Gezi-Aufstand von 2013. Die Demonstrierenden werfen dem Staatspräsidenten vor, mithilfe der Justiz seinen aussichtsreichsten Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Laut dem türkischen Innenministerium wurden seit Beginn der Proteste fast 2.000 Menschen festgenommen, darunter mehrere Medienschaffende. Über 300 Studierende wurden in Untersuchungshaft genommen. Ihnen werden Verstöße gegen das türkische Versammlungsverbot vorgeworfen.