Am Sonntag hat ein Bündnis aus politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen in vielen Städten Nordkurdistans zum Newroz-Fest eingeladen. Mit den Feierlichkeiten begrüßen Kurdinnen und Kurden traditionell das neue Jahr und den beginnenden Frühling. Die bislang größte Veranstaltung fand in der Provinz Wan statt. Nach Angaben des Organisationskomitees beteiligten sich rund 300.000 Menschen an dem Fest.
Newroz, das eigentlich am 21. März begangen wird, steht in diesem Jahr in Kurdistan unter dem Motto „Her der Newroz – Her dem Azadî“ und damit mehr denn je im Zeichen des Widerstands gegen das Erdogan-Regime. „Weg mit der Diktatur – Ja zu Demokratie und Freiheit“, heißt es daher auch im zentralen Aufruf der ausrichtenden Organisationen, zu denen das Graswurzelbündnis KCD, die Frauenbewegung TJA, die Parteien HDP, DBP und YSP sowie deren Organisierungsgremium HDK (Demokratischer Kongress der Völker) gehören. Sie widmeten das diesjährige Widerstandsfest den Opfern der verheerenden Erdbeben Anfang Februar.
Seit dem frühen Morgen zogen unzählige Menschenschwärme aus allen Landkreisen von Wan vorbei an unzähligen Kontrollpunkten von Polizei und Armee, die in der Region wie Pilze aus dem Boden schießen, in den großen Park unterhalb der urartäischen Wan-Festung. Blöcke der kurdischen Jugendbewegung trotzten dem massiven Aufgebot an Einsatzkräften unterschiedlicher Behörden mit der Parole „Bijî Serok Apo“ (Es lebe der Vorsitzende Apo; gemeint ist Abdullah Öcalan) – ein Fanal gegen den unerklärten Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Wasserwerfer gegen die Jugendlichen ein – diese reagierten mit Steinwürfen.
Aydeniz: Generalschlüssel gegen Kriegspolitik auf Imrali
Die Newroz-Feierlichkeiten in Kurdistan sollen auch der Demokratischen Partei der Völker (HDP) den Rücken stärken, die sich erneut zunehmender Repression ausgesetzt sieht und gegen die ein Verbotsverfahren anhängig ist. Die Entscheidung darüber fällt voraussichtlich noch vor den im Mai geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. In Redebeiträgen wurde die allgegenwärtige Kriegspolitik des türkischen Regimes thematisiert, die ihre Wurzel in Kurdenfeindlichkeit habe. Die DBP-Vorsitzende Saliha Aydeniz etwa sagte: „Der Generalschlüssel dafür, diese Vernichtungspolitik zu überwinden, befindet sich mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Er ist Architekt für Freiheit und Frieden und der einzige Akteur in diesem Land, der einen Lösungsplan für die vielfältigen Probleme hat, die nicht nur Kurdistan, sondern die gesamte Nahostregion in einen dauerhaften Kriegsschauplatz verwandelt haben. Er muss freikommen, denn die Freiheit unserer Völker ist mit der Freiheit Öcalans verbunden.“ Die Rede wurde immer wieder mit dem Ruf „Bijî Serok Apo“ unterbrochen.
Erdogan Hauptverantwortlicher für Verlauf der Erdbebenkatastrophe
Aydeniz gedachte den Todesopfern der Erdbeben vor fünf Wochen, die von Regierungsseite mit knapp 50.000 angegeben werden. Sie warf Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, Hauptverantwortlicher für den Verlauf der Katastrophe zu sein. „Er hat es nicht nur versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf ein Beben dieser Größenordnung vorzubereiten. Er hat die Erdbebensteuer veruntreut und mit in die eigene Tasche gesteckt. Mitten in der Katastrophe hat er Helferinnen und Helfer diskriminiert und diffamiert, Kritiker verhaften lassen. Er hat den Opfern Hilfe verweigert und tut dies weiterhin. Er hat zivile, solidarische Strukturen zerstört und staatliche Strukturen ausgehöhlt, die hätten helfen können. Er hat Kurdistan bombardieren lassen, während die Erde bebte.“ Die eigentliche Katastrophe sei nicht das Erdbeben, sondern Erdogan und dessen Regime, so Aydeniz.
Kein Vergeben, kein Vergessen
„Wenn er nicht zurücktritt, muss er sich auf eine Entlassung durch das Volk vorbereiten. Am 14. Mai ist es so weit. Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen, wir werden keinen Frieden schließen. Weder mit Erdogan noch anderen Mitgliedern dieses Regimes, die fordern, dass wir das Geschehene vergessen“. Damit nahm Aydeniz Bezug auf Erdogan, der um Vergebung für „Verzögerungen“ bei der Erbebenhilfe gebeten hatte. Aufgrund der „verheerenden Auswirkungen der Beben, des schlechten Wetters und der Schwierigkeiten, die durch die beschädigte Infrastruktur verursacht wurden“, hätte man in den ersten Tagen nicht so arbeiten können, wie man gewollt hätte. „Dieses Regime wird fallen. Der 14. Mai wird der Tag sein, an dem die Völker dieses Landes und unsere Nachbarn ihren gemeinsamen Sieg über einen Diktator feiern. Davon bin ich überzeugt.“