Ehemaliger Offizier: Kriegsverbrechen schlimmer als in 90ern

Der ehemalige Offizier der türkischen Armee, Yannis Vasilis Yaylalı, warnt, die Kriegsverbrechen der türkischen Armee hätten sich im Vergleich zu den 90er Jahren „verzehnfacht“. Das Regime empfinde nicht einmal mehr das Bedürfnis, diese zu vertuschen.

Yannis Vasilis Yaylalı hieß nicht immer so. Früher war sein Name Ibrahim Yaylalı und er entsprach dem Modell eines „Helden“ für den türkischen Staat. Er war in den 90er Jahren Offizier der türkischen Armee und beteiligte sich an Kriegsverbrechen im Krieg in Kurdistan. Viele weitere Gräueltaten sah er mit eigenen Augen. Er wurde 1994 verwundet und von der Guerilla gefangen genommen. Dies wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Er befand sich zwei Jahre und acht Monate in Haft bei der Guerilla und lernte dort aus seiner islamistischen und rassistischen Sozialisation auszubrechen; er lernte das Paradigma Abdullah Öcalans kennen. Gleichzeitig erfuhr er, dass sein Vater zur griechischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei gehörte. Er beschreibt diese Situation als einen Befreiungsschlag. Aus dem Militär und Kriegsverbrecher Ibrahim wurde der Friedensaktivist und Antimilitarist Yannis Vasilis. Nach seiner Freilassung wurde er für dreieinhalb Monate in der Türkei inhaftiert. Seither stellt er sich offen gegen Militarismus und Krieg und zog nach dem Massaker von Roboskî in das Dorf in den kurdischen Bergen. Mittlerweile musste er vor dem AKP/MHP-Regime nach Griechenland fliehen.

 

150 Jahre Vernichtungspolitik

Im ANF-Gespräch berichtet Yaylalı über die aktuelle türkische Kriegspolitik und warnt: „Seit 150 Jahren versuchen sie, diese Region zu türkisieren. Erst waren es die Jungosmanen, dann die Islamisten, dann die Jungtürken und dann die Kemalisten, die aus ihnen hervorgingen. Sie alle hatten das gleiche Ziel. Niemand von ihnen versuchte, demokratische Wege zu gehen. Die Assyrer, die Armenier und auch mein eigenes Volk, von dem ich erst spät erfuhr, das der Pontos-Griechen, wurden zum Ziel des Massenmords. An diesen Genoziden beteiligten sich alle Komponenten des Staates. Ihre Haltung gegenüber nichttürkischen oder nichtsunnitischen Bevölkerungsgruppen ist offensichtlich. Ihre Haltung zu Griechenland und Zypern ist deutlich. Auch das, was sie durch Aserbaidschan Armenien antun, geschieht vor den Augen der Welt. Was heute geschieht, ist die Fortsetzung einer 150-jährigen Türkisierungspolitik. Es wird jede mögliche schmutzige Methode angewendet.“

Es ist wichtig, gemeinsam zu kämpfen

Yaylalı führt zur historischen Kontinuität der türkischen, rassistischen und konfessionalistischen Politik aus: „Sie betrachten all das, was sie kurdischen Frauen antun, die Vergewaltigungen und die Folter, als ihr Recht. Sie stützen sich dabei auf das osmanische Recht des ‚Eroberers‘. Wir haben es hier mit einem durchgedrehten Staat zu tun. Aus diesem Grund greift er nicht nur Kurden, oppositionelle Türken, Armenier und Griechen an, sondern die ganze Region wird von ihm in Brand gesetzt. Syrien, Irak, Griechenland, Armenien, sie alle werden von ihm angegriffen. Deswegen ist es zwingend notwendig, gegen diesen Operettendiktator, der sich selbst als Enver Paşa, Talat Paşa und Camal Paşa [die Hauptverantwortlichen des Armeniergenozids] sieht, und sein durchgedrehtes Kabinett, gemeinsam vorzugehen. Wenn jetzt nichts geschieht, wird das, was wir heute im Vergleich zum dem, was wir morgen erleben werden, eine Kleinigkeit sein.“

Die Zeit des Ignorierens ist vorbei“

Yaylalı appelliert auch an die Staaten, sie müssten endlich den rassistischen, faschistischen, fundamentalistischen und neoosmanischen Charakter des türkischen Staates erkennen. Der Ex-Militär fährt fort: „Alle Völker, alle Länder müssen diese Realität wahrnehmen und sich dementsprechend verhalten. Insbesondere wir Pontos-Griechen und Griechenland sowie die Armenier und Armenien müssen als Menschen, deren Vorfahren den Genozid erlebt haben, unsere Beziehungen zum türkischen Staat, aber auch zu den Kurden neu überdenken. Die Zeit, in der man unterstützt, wenn es gerade passt, und in der man alle Massaker ignoriert, wenn es gerade nicht passt, ist endgültig vorbei. Wenn die Länder nicht wollen, dass sie ebenfalls von diesem Feuer ergriffen werden, müssen sie ihre Beziehungen zu den Kurden ins rechte Lot rücken. Eigentlich befinden sich auch der Iran und Syrien in dieser Position.“

Dem Wahnsinn ein Ende bereiten“

Yannis Vasilis Yaylalı richtet sich als ehemaliger Kriegsverbrecher an die Öffentlichkeit: „Die Situation heute ist zehn Mal schlimmer als in den 90er Jahren. Früher wurden Kriegsverbrechen in begrenzter Art und Weise begangen und man bemühte sich darum, diese zu verbergen. Heute finden bestialische Verbrechen wie Vergewaltigungen kurdischer Frauen, Menschen aus Hubschraubern zu werfen und zu ermorden, Verschleppungen und Morde viel offener statt. Das richtet sich nicht nur gegen das kurdische Volk, sondern gegen die gesamte Menschheit. Wir haben den Angriff auf die Hagia Sofia gesehen. Die Verbrechen dieser hasserfüllten, rassistischen Allianz des politischen Islams in Syrien und im Irak haben wir ebenfalls gesehen. Ich will warnen, dass sich dieser Brand gerade im Moment auf den Kaukasus, den Mittleren Osten, nach Afrika und Europa ausbreitet. Wir müssen daher unsere kurzfristigen Interessen zurückstellen und langfristig denken. Daher müssen wir diesen Wahnsinn stoppen. Ich rufe alle zum Handeln auf. Dies ist meine Aufgabe sowohl als Mensch als auch als ehemaliger Kriegsverbrecher. Das schulde ich dem kurdischen Volk, das es mir ermöglicht hat, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und meine Menschlichkeit wiederzufinden. Alle sollten wissen, das sie selbst als nächstes ins Visier des türkischen Staates geraten können.“