Die Socken von Mahsum Korkmaz

Die Geschichte einer jungen Frau, die in einem strengen Winter in Kurdistan selbstgestrickte Wollsocken aus ihrer Aussteuertruhe holte, um sie dem legendären Guerillakommandanten Mahsum Korkmaz zu geben...

Der schwerste Moment im Beruf des Journalismus ist es, wenn die Person, die einem für eine Reportage gegenüber sitzt, beim Erzählen ihrer Geschichte plötzlich zu weinen beginnt. Du weisst nicht, was du tun sollst, und schwankst hin und her, ob du das Interview unterbrechen oder einfach weitermachen sollst. Das ist bei dieser Reportage passiert. Die Frau mittleren Alters sagte vor laufender Kamera: „Wenn ich dieses berühmte Foto sehe...“ Dann begann sie zu weinen. Unter Tränen erklärte sie sich schließlich bereit, weiter zu sprechen, wenn die Kamera ausgeschaltet wird. Das haben wir getan, und sie machte weiter...

Es war der kälteste Winter Mitte der 1980er Jahre in Kurdistan. Die Hausdächer waren unter meterhohem Schnee verschwunden, das Leben war zum Stillstand gekommen. In diesem strengen Winter tauchte am Fenster in einem Dorf in Sason die Silhouette einer bewaffneten Gruppe auf. Es waren zwölf Guerillakämpfer unter dem Kommando von Mahsum Korkmaz (Egîd). Die zugeschneite Tür des Hauses ließ sich nur schwer öffnen, dann wurde die Gruppe hereingeholt.

T.S. war damals eine sehr junge Frau. Sie vergewissert sich, dass die Kamera aus ist, und erzählt von der Begegnung mit der Guerilla:

„Sie zogen ihre Oberbekleidung und ihre nasse Strümpfe aus und setzten sich um den brennenden Ofen in unserem Haus, das nur ein Zimmer hatte. Ihre Strümpfe waren durchlöchert, die von Heval Egîd konnte man kaum noch als Strumpf bezeichnen. Ich öffnete meine Aussteuertruhe, die in der Ecke stand, und holte gestrickte Wollsocken hervor. Als ich sie ihm überreichte, lächelte er und sagte: ‚Ich habe kleine Füße, ob die wohl passen?‘ Er hatte recht, sie waren etwas zu groß. Später zog er wie auf dem berühmten Foto weitere braune Socken darüber.

Egîd hatte jetzt Socken, aber wir mussten uns um Strümpfe für die anderen Freunde kümmern. Egîd sagte: ‚Es geht nicht, wenn nur ich Socken habe, entweder bekommen alle welche oder ich muss diese wieder ausziehen.‘ Da haben wir an die Türen im Dorf geklopft und auch die anderen jungen Mädchen öffneten ihre Aussteuertruhen. Wir sammelten elf Paar Socken zusammen. Die Guerillakämpfer überschlugen sich fast vor Freude und zogen sie sofort an. Sie waren fast wie Kinder, die sich für einen Feiertag zurechtmachen.“

Die jungen Frauen in diesem aus vierzig oder fünfzig Häusern bestehenden Dorf am Hang des 3000 Meter hohen Berges Mereto brachen an diesem Winterabend mit einer Tradition, denn die Aussteuertruhe galt als versiegelt und durfte erst bei der Hochzeit geöffnet werden. Der Brauch sah vor, dass junge Frauen vor der Heirat bestickte Tücher, Wollsocken und andere wertvolle Gegenstände in diesen Truhen aufbewahrten. Wenn der Tag der Hochzeit kam, war die Truhe das einzige, was die junge Frau aus ihrem Elternhaus mitnahm. An diesem Abend jedoch wurden aus zwölf Aussteuertruhen zwölf selbstgestrickte Paar Socken für Mahsum Korkmaz und elf weitere Guerillakämpfer geholt.

T.S. erzählt weiter: „Sie waren in ihrem ganzen Verhalten so anders, sehr höflich und angenehm. Sie waren bescheiden und überhaupt nicht gierig. Man merkte es kaum, dass sie etwas aßen. Es war fast so, als wären sie auserwählte Menschen wie die Begleiter des Propheten. Das Leben war damals hart und wir wussten die Dinge zu schätzen, die wir besaßen. Die Menschen waren glücklich, wenn sie das, was sie hatten, mit anderen teilen konnten. Das zu teilen, was man am liebsten hat, bedeutete Glück. Und wir teilten mit Heval Egîd und seinen Freunden von der Guerilla das, was wir in unseren Aussteuertruhen aufbewahrt hatten.

Später kamen eines Morgens Soldaten ins Dorf und holten alle Leute mit Tritten und Schlägen aus den Häusern. Mein großer Bruder und ich wurden zunächst zur Garnison in Sêrt und dann nach Amed gebracht. Ich war in einem schrecklichen Zustand. Und wen musste ich sehen, als ich in diesem aufgelösten Zustand in das Kommandantenzimmer geführt wurde? Ali Ozansoy saß dort, mit überschlagenden Beinen, eine Zigarette rauchend. Er sah mich mit einem schmutzigen Ausdruck im Gesicht an und fragte, ob ich ihn erkenne. Ich war völlig schockiert und versuchte mit klappernden Zähnen ‚Ja‘ zu sagen.

Ich wurde in den Frauentrakt im Kerker von Amed gesteckt. Wir waren neun oder zehn Frauen, ich war die Jüngste. Die Folter und Unterdrückung waren maßlos. Ich vermisste meine Mutter und meine Familie schrecklich. Heval Sakine Cansiz versuchte immer, mich aufzumuntern. ‚Diese Tage werden vorbeigehen, eines Tages werden wir alle frei sein‘, sagte sie. Was ich erlebt habe, war sehr schwer, ich kann darüber nicht sprechen. Selbst jetzt noch fühle ich mich bei dem Gedanken daran, als ob ich von einer Welt in die nächste Welt gehe.

In jenen Jahren war es eine große Schande, wenn eine junge Kurdin in die Hände türkischer Soldaten geriet. Für meine Familie war es sehr schwer. Ich war dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Nach meiner Entlassung musste ich alle paar Tage zur Polizei gehen und eine Unterschrift leisten. Mein Bruder war im Gefängnis, mein Vater war alt. Ich musste als junge Frau ständig allein in die Stadt fahren und zurückkommen. Später musste ich heiraten und wir zogen in die Stadt.“

Als T.S. mit ihrer Erzählung fertig ist, holt sie aus ihrer Tasche das Buch „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansiz, die am 9. Januar 2013 zusammen mit zwei weiteren Frauen in Paris ermordet worden ist. T.S. blättert durch das Buch und stoppt auf einer Seite im Schlussteil, in dem Fotos von Sakine Cansiz abgebildet sind. Sie zeigt auf eine junge Frau neben Sakine Cansiz und sagt lächelnd: „Sieht die mir ähnlich?“

Ali Ozansoy hat sich Anfang 1985 im Dorf Kelhasan in Sason dem türkischen Militär ergeben. Fast alle Menschen, die in der Region der Guerilla ihre Türen geöffnet hatten, wurden von ihm denunziert. Am 9. März 1985 wurde eine achtköpfige Guerillagruppe unter dem Kommando von Ahmet Ibin (Cahit) aufgrund seiner Denunziation getötet. In den 1990er Jahren wurde Ali Ozansoy zu einem Auftragsmörder des JITEM.

In der Guerillagruppe, die damals in Sason ums Leben kam, war nur eine Frau. Sie hieß Adife Sakik und hatte den Kampfnamen Berivan. Die junge Frau, die ihre Aussteuertruhe für Mahsum Korkmaz geöffnet hatte, um ihm ein Paar Wollsocken zu geben, und die Jahre später nach der Hölle des Kerkers von Amed ohne Aussteuer heiratete, hat ihrem erstgeborenen Kind den Namen Berivan gegeben.